Jennifer Hermoso
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Spaniens Verbandspräsident im Fokus Fußball-WM - Ein Kuss als Machtdemonstration

Stand: 21.08.2023 20:29 Uhr

Die Diskussion um den übergriffigen Kuss von Verbandspräsident Luis Rubiales nach dem WM-Finale wird verkürzt geführt. Es geht um Machtmissbrauch, meint Nora Hespers.

Es wird viel diskutiert über den Kuss, den der spanische Verbandspräsident Luis Rubiales der Weltmeisterin Jenni Hermoso beim Jubel über den Titelgewinn auf den Mund gedrückt hat. Er hält dabei ihren Kopf fest. Die Bilder gehen um die Welt. Ebenso wie Hermosos Statement in einem Insta-Live aus der Kabine kurz nach dieser Aktion, bei dem sie gefragt wird, was sie davon hält: "Es hat mir nicht gefallen", gibt sie zur Antwort.

Im selben Video wird sie von einer anderen Frau gefragt, warum sie sich nicht gewehrt hätte? Ihre Antwort: "Was hätte ich denn tun sollen?" Ja, was hätte sie tun sollen? Rubiales, dem Verbandschef vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine Ohrfeige verpassen? Hätte sicherlich für ein großes Hallo gesorgt.

Aber wahrscheinlich ging es ihr, wie es vielen Frauen in diesen Situationen geht: Sie war schlicht überrumpelt. Denn eigentlich, so könnte man meinen, sollten Frauen gerade im Rampenlicht vor derartigen Übergriffen sicher sein. Sind sie aber nicht. Und das sagt viel darüber aus, was Männer für "normal" halten, was sie sich erlauben können - und Frauen eben nicht.

Lange Vorgeschichte von Missbrauch und Übergriffigkeit

Was zu Beginn der Diskussion in vielen Artikeln fehlte war übrigens die Einordnung dieser Übergriffigkeit des spanischen Verbandspräsidenten in einen größeren Zusammenhang. Denn spätestens seit September 2022 gibt es Vorwürfe gegen den Trainer des spanischen Frauenteams: Jorge Vilda. In einem gemeinsamen Statement teilten im vergangenen Jahr 15 (!) Nationalspielerinnen dem Verband mit, dass die Trainingsführung Jorge Vildas ihre mentale Gesundheit ernsthaft in Mitleidenschaft zieht. Es gab Hinweise auf übergriffiges Verhalten, Kontrollwahn, mangelnde Belastungssteuerung und schlechte Kommunikation mit dem Team.

Die Folge dieses Vorstoßes der Spielerinnen war aber nicht etwa, dass es eine Untersuchung gegen den Trainer gab. Im Gegenteil. In der Antwort des Verbands, die als Copy-Paste-Version an die 15 Spielerinnen geht, hieß es: "The RFEF will not allow the players to question the continuity of the coach, as taking those decisions are not part of their role." Vereinfacht gesagt: Die Spielerinnen sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Die Weiterbeschäftigung des Trainers gehört nicht dazu.

Das ist eine klar autoritäre Machtdemonstration seitens des Verbandes, dessen Präsident sich jetzt also auf der Weltbühne vor aller Augen den Kopf einer Spielerin schnappt und ihr einen Kuss aufdrückt.

Von den 15 Spielerinnen, die im vergangenen September gegen den Trainer aufbegehrten, waren übrigens nur 3 (!) Teil des WM-Teams, das jetzt den Titel geholt hat. Und auch während des Turniers gab es Hinweise darauf, dass es den Frauen des spanischen Teams gegenüber zu Übergriffen gekommen ist, wie Felix Haselsteiner (SZ) im Rasenfunk-Podcast berichtet. Demnach soll Rubiales bereits nach dem Halbfinale zwei Spielerinnen ohne deren Zustimmung geküsst haben, während die im Gespräch mit internationalen Journalistinnen und Journalisten waren.

Höchstleistung und Übergriffe

Jetzt wird, wie eigentlich immer in solchen Fällen, wieder einmal diskutiert, ob das denn alles so schlimm sei. Und auch der spanische Verband lässt im Anschluss an das skandalöse Verhalten seines Präsidenten verlauten: "Es war eine ganz spontane gegenseitige Geste aufgrund der großen Freude über den Gewinn einer Weltmeisterschaft."

Und auch Hermoso legt der Verband in einem Statement diese Worte in den Mund.* Selbst geäußert hat sie die nämlich nicht. Wer hier nach der Vorgeschichte das klare Machtgefälle zwischen Spielerinnen und Verband nicht sehen will, dem ist auch mit sachlichen Erklärungen schwer beizukommen. Man könnte sich auch fragen, ob Rubiales einen Mann ebenso geküsst hätte bei einem Titelgewinn. Und ich sag mal so: schwer vorstellbar. Und ja, auch dann wäre das natürlich ein sexueller Übergriff, wenn der Spieler das nicht gewollt hätte. Ist doch klar.

Das zweite Argument, mit dem gerne Zweifel gesät werden, ist: Aber wenn das alles so schlimm und so psychisch belastend ist, dann hätten die doch gar nicht diese Leistung zeigen können! Auch das Argument ist - leider - zahlreich widerlegt. Es gibt so viele Sportler:innen, die trotz psychischer und physischer Gewalt Höchstleistungen erbringen.

Und das Schlimme: Genau deshalb fällt häufig gar nicht auf, in welcher Situation sie sich befinden. Eben weil sie weiter leistungsfähig sind, im Rampenlicht stehen und dort glänzen. Dass das möglich ist, hat unter anderem mit etwas zu tun, das dem Sport innewohnt, über das wir aber viel zu selten sprechen: Schmerz, Grenzüberschreitung, und die Bereitschaft, auch mental durch die Hölle zu gehen.

Die Glorifizierung von Schmerz und Qual

All das gilt im Sport als normal. Sich quälen - und eben auch gequält werden - sind Teil des Sports. Sei es mit schmerzhaften Dehnübungen, bei denen einem die Tränen in die Augen steigen, sei es Muskelkater aus der Hölle, bei dem am nächsten Tag eine Treppe wie der Endgegner erscheint, seien es Stürze, Brüche, blaue Flecken oder Bänderrisse.

All das ist Teil von Sport und gehört für viele einfach dazu. Wir tragen diese Schmerzen wie Trophäen vor uns her. Seht: Ich hab mich selbst bezwungen. Ich bin über meine Grenzen gegangen. Ich bin fit und mental stark. Das ist der Teil von Sport, den wir gerne glorifizieren.

Die Tour de France zum Beispiel ist auch deshalb so ein Ereignis, weil alle wissen, welche Qual es bedeutet, solche Berge hochzufahren. Welches Risiko die Fahrer bei den rasanten Abfahrten tragen. Sich quälen können, Disziplin, seine eigenen Grenzen überwinden - wenn es sein muss auch mit krassesten Trainingsmethoden.

Es ist erstaunlich und erschreckend zugleich, was Menschen bereit sind für ihren Sport, für sportliche Leistung zu ertragen. Und es ist erschreckend normal, wie häufig körperliche und psychische Übergriffe ein Teil davon sind. Wie groß das Problem ist, wurde im vergangenen Jahr erstmals durch eine wissenschaftliche Studie der Bundesregierung unter Leitung von Bettina Rulofs von der Deutschen Sporthochschule in Köln belegt.

Rulofs betont vor allem im Leistungssport die Machtgefälle und Abhängigkeiten zwischen Athletinnen und Athleten und denen, die sie betreuen, seien es Trainerinnen, medizinisches Personal oder eben Funktionäre von Vereinen und Verbänden. Wie sehr das ein strukturelles Problem ist, hat nicht zuletzt auch diese WM gezeigt.

Was also tun?

Zunächst einmal: Wir können alle etwas tun. Zum Beispiel solche Übergriffe, wie sie über Millionen Screens weltweit geflimmert sind, als solche begreifen und auch bezeichnen. Hier hat ein Mann in einer Machtposition eine Frau in aller Öffentlichkeit genötigt, sich küssen zu lassen. Und das hat er gemacht, weil er genau weiß, dass das keine Konsequenzen für ihn haben wird. Dass er sich sicher fühlen kann.

Weil ein großer Teil der Menschen immer noch denkt, das sei "ja nicht so schlimm" und "nur ein Kuss, da muss man kein Drama draus machen". Es geht nicht um den Kuss. Es geht um das Machtgefälle. Und in diesem Machtgefälle ist dieser Kuss ein Akt der Gewalt. Allein schon deshalb, weil der Kopf von Hermoso so festgehalten wird, dass sie dem gar nicht ausweichen kann.

Zweitens: Selbstreflektion. Wie definieren wir Sport? Wie definieren wir Leistung? Allein die Diskussion um die angeblich abgeschafften Bundesjugendspiele zeigt, dass in vielen Köpfen Härte und Disziplin noch weit vor Spaß und Bewegungsfreude rangieren (Funfact: Die wurden gar nicht abgeschafft).

Diese Haltung ist Teil des Problems. Die Idee, wir seien nur leistungsfähig, wenn wir durch die absolute Hölle gegangen sind. Wenn wir uns durchgebissen haben. Wenn wir uns durch den Schmerz gequält haben. Eine Quälerei, zu der wir halt manchmal "überredet" werden müssen. Die moderne Sport-Pädagogik ist da zum Glück schon weiter.

Drittens: Auch im Sportjournalismus muss es ein Umdenken geben - und gibt es zum Glück auch schon. Auch hier braucht es mehr Wissen und Bewusstsein über Machtverhältnisse im Sport, über die Strukturen, die Missbrauch begünstigen und über die Strategien der Täter und Täterinnen. Denn: Die Folgen dieser Übergriffe tragen nicht sie. Die tragen die Überlebenden sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt. Und zwar ihr Leben lang.

*In einer früherer Version stand hier, Hermoso hätte mit diesem Statement eingelenkt. Inzwischen wurde bekannt, dass der Verband dieses Statement ohne die Zustimmung von Jenni Hermoso veröffentlicht hat.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau FIFA Frauen WM | 20.08.2023 | 12:00 Uhr