Italienischer Fußball Das Hochgefühl des Calcio
Keine Nation ist im Europapokal aktuell so erfolgreich wie Italien: Gleich fünf Vertreter der oft geschmähten Serie A haben es in die Halbfinale der drei Europapokalwettbewerbe geschafft.
Viel Zeit bleibt nicht, dann muss Bayer Leverkusen gleich die nächste Europapokaltournee organisieren. Aber das macht die zuständige Abteilung gerne, wo sonst doch all die Jahre im Frühjahr meist Endstation war. Nun steuert der Werksverein nach der europäischen Hauptstadt Brüssel gleich die nächste Metropole an: Rom ist aus touristischen Gründen ja mit das beste, was einem Europapokalteilnehmer passieren kann.
Insofern ist das Europa-League-Halbfinale gegen AS Rom (11. und 18. Mai) ein Glücksfall für den UEFA-Cup-Sieger von 1988. Wäre Rudi Völler als Geschäftsführer noch in Amt und Würden unter dem Bayer-Kreuz, hätte Leverkusen auch noch den besten obersten Repräsentanten im Portfolio. Völler war von 1987 bis 1992 für AS Rom aktiv - und definitiv als einer der besten Botschafter Deutschlands in der Serie A unterwegs.
Rudi Völler reist mit Leverkusen nach Rom
Aber auch als Sportdirektor Nationalmannschaften wird sich die Stürmer-Legende diesen Trip nicht nehmen lassen. Der 63-Jährige gehört für die Auswärtspartie am 11. Mai mit zur Leverkusener Reisegruppe, bestätigte der Verein am Freitag. "Das Unausweichliche ist passiert", sagte Völler: "Das werden ganz sicher zwei wunderbare Spiele." Obwohl er sich als "halber Römer" bezeichnet, werden seine Sympathien werden klar verteilt sein. "Bei all meiner Nähe zu Rom ist klar, dass mein Herz für Bayer Leverkusen schlägt." Star-Trainer José Mourinho habe bei der Roma aber "große Euphorie entfacht".
Wenn die Werkself diese Hürde nimmt, könnte es im Finale in Budapest am 31. Mai gleich noch eine Kraftprobe mit einem italienischen Renommierverein geben, wenn sich Juventus Turin gegen den FC Sevilla durchsetzt. Vermutlich staunt auch der Italien-Experte und -liebhaber Völler, was jetzt in den jüngsten K.o.-Duellen der Europapokal-Viertelfinale passiert ist: Fünf Teams aus einer gerne verschmähten Liga stehen im Halbfinale der drei Wettbewerbe.
Erstmals seit 2017 wieder ein italienischer Verein im Champions-League-Finale
Inter Mailand und AC Mailand duellieren sich in der Champions League im lombardischen Derby und schicken damit erstmals wieder seit 2017 ein Team aus Italien zum Finale am 10. Juni in Istanbul. Eben der AS Rom und Juventus Turin vertreten die Serie A in der Europa League, wo seit der Premiere 2010 noch kein italienischer Klub gewann. Und dazu hat sich in der Europa Conference League auch der AC Florenz in die Vorschlussrunde vorgekämpft: Gegner ist der FC Basel. Es soll Fans der Florentina geben, die bereits Flüge und Unterkünfte fürs Finale am 7. Juni in Prag buchen. Im Vorjahr triumphierte bei der Premiere dieses Formats übrigens der AS Rom.
Das italienische Hochgefühl ist mit Händen zu greifen. "Forza, Leute, Europa wartet auf uns. Lasst es uns erobern", titelte die "Gazzetta dello Sport" vor den Viertelfinalen und jubelte: "Wir sind sogar besser als die Engländer. Heben Sie die Hand, wenn Sie sich das zu Beginn der Saison vorgestellt haben." Bei der WM 2022 in Katar fehlte Italien. Verspottet von der Fußball-Welt, weil der im Jahr davor gefeierte Europameister es nicht schaffte, Nordmazedonien zu besiegen. Doch jetzt ist die taktische Raffinesse, die technische Qualität der Klubteams nicht zu leugnen.
Als Kollektiv besser als so mancher englische Klub
Die meisten Mannschaften funktionieren als Kollektiv, besser als so manch hektisch zusammengekaufter Luxuskader aus England, wo der FC Chelsea ein besonderes abschreckendes Beispiel dafür bot, wohin zu viel Geld auf dem Transfermarkt auch führen kann. Die Renaissance des Calcio kann niemand leugnen. Als der angehende Meister SSC Neapel im Achtelfinale dem Europa-League-Sieger Eintracht Frankfurt (2:0, 3:0) eine Lehrstunde verpasste, sagte Trainer Luciano Spalletti: "Es wird Zeit, dass wir das Klischee vom schlechten italienischen Fußball beseitigen."
Ausgerechnet Nationalcoach Roberto Mancini goss danach Wasser in den Wein, als er zur angeblichen Wiedergeburt des italienischen Fußballs anmerkte: "Wenn Milan, Napoli und Inter mit 33 Italienern spielen würden, könnte man das sagen. Aber es ist noch nicht einmal die Hälfe." Andere Länder sind nicht so kritisch mit ihren Klubteams, wenn nur zwei oder drei einheimische Akteure in der Startelf stehen.
Lob von höchster UEFA-Stelle
UEFA-Präsident Aleksander Ceferin fragte in seiner Rede beim UEFA-Kongress kürzlich: "Welche Liga hat die meisten Vertreter im Champions-League-Viertelfinale? Italien! Welche Liga hat die meisten Vertreter im Europa-League-Viertelfinale? Italien!" Gerade die Mailänder Klubs mit ihrer großen Strahlkraft haben sich neu erfunden. Die Po-Ebene war lange raus, wenn es darum ging neue Trends im Fußball zu setzen. Milan, siebenmaliger Gewinner des Henkelpotts (zuletzt 2007), spielte erstmals seit elf; Inter, dreimaliger Champions-League-Sieger (zuletzt 2010), sogar seit zwölf Jahren wieder unter den Top acht der Königsklasse mit.
Der Anhang ertrug die Abstinenz mit einer Mischung aus Bestürzung und Gleichgültigkeit. Immerhin tröstete Milan im Vorjahr seine Gefolgschaft mit der Meisterschaft, Inter machte seine Gemeinde im Jahr zuvor mit dem Scudetto glücklich. Beide Klubs sind gute Beispiele, was richtig gemacht wird. Nach vielen Irrungen und Wirrungen in der Post-Berlusconi-Ära leistete Legende Paolo Maldini als Milan-Sportchef ganze Arbeit, indem er eine junge, spielstarke Truppe formte, in der Sandro Tonali aus der Mittelfeldzentrale heraussticht – die 22-Jährige ist inzwischen auch in der "Squadra Azzurra" gesetzt. Ansonsten definiert sich dieses Team gerne über die Arbeit gegen den Ball.
Wie überhaupt es nicht verboten ist, den Catenaccio aus alten Zeiten mal wiederzubeleben. Aber als Stilmittel allein wäre das Verteidigen natürlich zu wenig. Inter spielt von den beiden Stadtrivalen den etwas aufregenderen Fußball, hat mit dem Ex-Bundesligatorschützenkönig Edin Dzeko, dem argentinischen Weltmeister Lautaro Martinez und dem belgischen Weltklassestürmer Romelu Lukaku auch drei Topangreifer unter Vertrag, die immer den Unterschied machen können. Allerdings sorgt Platz fünf in der Liga gerade dafür, dass es um Trainer Simone Inzaghi erste Unruhe gibt. Dabei wäre der aktuelle Tabellenplatz mit dem allgemeinen Erstarken der Serie A gut erklärt.