"Belichicks Stuhl wackelt" New England Patriots nur noch NFL-Mittelmaß
Bill Belichick ist der erfolgreichste Coach der NFL-Geschichte, führte New England zu sechs Meistertiteln. Doch seit dem Abgang von Tom Brady geht’s bergab.
Diese Frage wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Mehr noch, sie wäre der Blasphemie gleichgekommen. Doch mittlerweile wird sie im Großraum Boston nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt, sondern öffentlich diskutiert. Ist Bill Belichick noch der richtige Trainer für die New England Patriots?
William Stephen Belichick, der die Franchise aus Foxborough zwischen 2000 und 2019 zu einer Dynastie geformt hat, der sie neun Mal ins Endspiel führte und mit ihr sechs Super Bowls gewann, ist nicht mehr unumstritten.
Highlight des Auftaktspiels: Tom Brady
"Bill Belichicks Stuhl wackelt. Die Frage ist nur, wie sehr", lautete die Überschrift in einer Saisonvorschau der Tageszeitung "Boston Globe". Das Online-Portal "The Athletic" schrieb von "steinigen Tagen", die vor den Patriots lägen. Im dritten Jahr nacheinander sind sie mit einer Niederlage in die Saison gestartet. Gegen Vizemeister Philadelphia Eagles verloren sie daheim 20:25.
Die Leistung war ganz ansehnlich. Doch richtig laut wurde es vor allem in der Halbzeitpause. Da lief Tom Brady auf das Spielfeld. Im Patriots-Trikot mit seiner Rückennummer 12. So, wie er es 20 Jahre lang bei den Heimspielen getan hatte. "Brady, Brady", skandierten die Fans. Erstmals nach seinem Karriere-Ende im Februar war ihr Tom zurückgekehrt.
Tom Brady läuft in der Halbzeitpause auf das Spielfeld
Glorreiche Vergangenheit trifft auf graue Gegenwart
Es war wie ein Ausflug in die glorreiche Vergangenheit. Und ein krasser Kontrast zur Gegenwart. Hier Brady, der für die Patriots-Dynastie steht. Für eine Ära, in der New England das Nonplusultra der NFL war. Und wenige Minuten später dann wieder das aktuelle Patriots-Team. Ein Mitläufer - mehr nicht.
In den meisten der Brady-Jahre galt New England als Topfavorit oder Titelanwärter. Seit dem Abgang des Quarterbacks 2020 haben die Patriots in drei Spielzeiten zweimal die Playoffs verpasst. Das einzige K.o.-Runden-Spiel endete mit einem 17:47-Debakel bei den Buffalo Bills.
Was ist Belichick ohne Brady?
Bislang war immer davon die Rede, dass Belichick und Brady zu gleichen Teilen die Säulen der sechs Patriots-Meistertitel gewesen seien. Doch mittlerweile ist deutlich geworden, wie abhängig der Coach von seinem Quarterback gewesen ist - und das dessen Anteil womöglich größer war als der von Belichick.
"Was ist er ohne Brady?", fragte Colin Cowherd Ende Juni. Er hat werktags auf "Fox Sports 1" eine nach ihm benannte TV-Show. Belichicks Karriere, so Cowherd, sei "unabstreibar mit einem Spieler verbunden: Brady." Der Experte untermauerte seine Aussagen mit einem Blick auf Belichicks Statistiken vor und nach Brady. Zehn Spielzeiten, davon sieben mit negativer Bilanz, ein Playoff-Sieg. Belichick werde von vielen verehrt, resümierte Cowherd. Aber ohne Brady sei er kein erfolgreicher NFL-Trainer.
Patriots kaum noch im nationalen TV
Natürlich muss hier die Frage kommen, ob Brady ohne Belichick wohl die sechs Super Bowls mit New England gewonnen hätte. Andererseits wurde er nach seinem Patriots-Abgang sofort mit den bis dahin bedeutungslosen Tampa Bay Buccaneers Meister - und hat somit gezeigt, dass er auch ohne Belichick Champion werden kann.
Belichick muss erst noch beweisen, dass er auch mit einem anderen Spielmacher einen Titel holen kann. Diese Saison wird das nicht klappen. Wennn es gut läuft, so die Einschätzungen der Experten, sei vielleicht ein Playoff-Platz möglich. Diese Aussichten machen die Patriots nicht mehr so interessant. Und wer nicht interessant ist, bringt keine TV-Quote. Deshalb werden New-England-Spiele kaum noch im nationalen Fernsehen gezeigt.
Folgenschwere Personalentscheidungen
"What have you done for me lately", ist ein gern gebrauchter Satz in den USA. Auf Belichick bezogen heißt das: die Erfolge der Vergangenheit schön und gut. Aber wie sah es eigentlich kürzlich aus? Die Antwort: erschreckend. Und daran hat der Chefcoach seinen Anteil.
Zum Beispiel durch seine Personal-Entscheidungen im Trainer-Stab. Belichick umgibt sich gerne mit Leuten, die er kennt und mit denen er Erfolg hatte. Allerdings sind dies oft auch Trainer, die ihm nicht widersprechen. So beförderte er vergangene Saison mit Matt Patricia (Offensive Coordinator) und Joe Judge (Quarterback-Coach) zwei treue Gefolgsleute in Positionen, die diese zuvor noch nie ausgeübt hatten - und überfordert waren.
Bill Belichick und Tom Brady
Trainer äußerlich gelassen
Ein Markenzeichen von Belichick ist es immer gewesen, dass er Spieler, selbst Leistungsträger, lieber ein Jahr zu früh abgibt als ein Jahr zu spät. Würde er diesen Maßstab auch bei sich ansetzen, hätte wohl längst jemand anderes Patriots-Coach sein müssen. Belichick selbst lässt sich - zumindest öffentlich - nichts anmerken. Der 71-Jährige lebt das vor, was er seinem Team stets predigt: Kontrolliere die Dinge, die du kontrollieren kannst.
Allerdings wirkt er immer öfter wie ein in die Jahre gekommener Architekt, dessen Planungs- und Entwicklungs-Künste in den vergangenen Jahren nichts Prachtvolles oder gar Einzigartiges mehr hervorgebracht haben.
Trainer-Allzeit-Rekord fest im Blick
Auf der Liste der NFL-Trainer mit den meisten gewonnenen Spielen rangiert er auf Platz zwei (329). Bis zum Führenden, Don Shula, fehlen ihm noch 18 Siege. Es ist kein Geheimnis, dass Belichick die Bestmarke im Blick hat. "Ich möchte, dass er sich den Rekord holt", sagte Patriots-Besitzer Robert Kraft. Allerdings sagte er auch: “Aber ich achte bei keinem unserer Spieler großartig auf Statistiken, denn bei uns geht’s ums Gewinnen - und dass wir alles dafür tun.”
Die Saison 2024 könnte eine besondere für Belichick werden. Es wäre seine 50. als Trainer - und er könnte den Shula-Rekord brechen. Ob er jedoch eine Chance dazu bekommt, liegt daran, wie gut seine Patriots in dieser Spielzeit abschneiden.