Interview zur Vierschanzentournee Sven Hannawald - "Der Favorit hat noch nie gewonnen"
In wenigen Tagen beginnt die Vierschanzentournee. Der Sieger von 2002 und Sportschau-Experte Sven Hannawald blickt auf den Saisonhöhepunkt der Skispringer. Er spricht über Favoriten, Geheimfavoriten und Regeländerungen. Und er erläutert, was Pius Paschke gerade so stark macht und Markus Eisenbichler scheitern lässt.
Sportschau: Nur noch wenige Tage bis zur Vierschanzentournee. Worauf können wir uns bei der 72. Auflage der Tournee freuen?
Sven Hannawald: "Die Deutschen sind so stark wie schon lange nicht mehr. Vielleicht sogar so stark wie noch nie. Es gab schon Winter, in denen wir gut waren. Ich erinnere mich an diese Saison, in der Karl Geiger in Gelb an den Start gegangen ist. Und trotzdem hat leider nie ganz alles zusammengespielt. Und in diesem Jahr haben wir wirklich drei Paradepferde plus einen eventuell überraschenden Philipp Raimund. Wir haben vier Leute, die ihre Leistung beständig wöchentlich zeigen. Das ist eine gute Basis dafür, eine Rolle um den Tourneesieg mitspielen zu können."
Sportschau: Mit Andreas Wellinger, Pius Paschke und Karl Geiger sind drei deutsche Skispringer in der Weltcup-Gesamtwertung unter den Top 4. Wem von den dreien liegen die Schanzen der Tournee denn am meisten?
Hannawald: "Das kann man nicht so genau sagen. Das liegt auch an der neuen Materialabstimmung. Karl Geiger hatte in der Vergangenheit zum Beispiel in Engelberg schon mal einen Doppelsieg, die Schanze kennt er. Mit dem neuen Material hatte er aber zuletzt wieder Probleme.
Andreas Wellinger rutscht immer mal ein perfekter Sprung raus, da ist er sofort ganz vorn dabei. Er tut sich aber schwer, das immer abzurufen. Der Stabilste war zuletzt Pius. Ihm traut man es von außen betrachtet aber am wenigsten zu. Andreas Wellinger als Olympiasieger und Karl Geiger als Skiflug-Weltmeister haben viel mehr Erfahrung und ganz andere Erfolge.
Pius hab ich mal als "Opa vom Team" bezeichnet. Er ist schon lange dabei, konnte sich aber nie richtig präsentieren. Und jetzt mit dem neuen Regelwerk passt sein Sprung. Die Schanzen sind nicht mehr so unterschiedlich, die Kleinigkeiten machen heute den Unterschied. Deswegen ist es auch unheimlich schwer, sich festzulegen."
Sportschau: Pius Paschke ist die Überraschung der Saison, zuletzt feierte er in Engelberg mit 33 Jahren seinen ersten Weltcupsieg. Was macht ihn im Moment so stark?
Hannawald: "Es gibt einige Springer, die davon profitieren, dass das Reglement fairer ist. Stefan Horngacher hat schon gesagt, als er frisch im Amt war, dass Pius vom Sprung her, vom Körperlichen, nicht zu groß, nicht zu klein, perfekt ins Skispringen passt. Nur gab es einfach zu viel Spielraum in der Regelauslegung.
Das kam anderen Springern entgegen. Jetzt ist es neutraler und fairer und da kommen Springer wie Pius zum Vorschein. Er muss jetzt bei der Tournee auch mit einer Erwartungshaltung umgehen. Ich glaube, dass er gut gelernt hat und sich jetzt nicht verrückt macht. Er weiß, dass sein Sprung funktioniert."
Sportschau: Stichwort Regeländerungen: Seit dieser Saison gibt es einen 3D-Scanner für die Anzüge und eine Verkleinerung der Keile in den Schuhen. Können Sie uns erklären, welche Auswirkungen das genau hat?
Hannawald: "Die 3D-Vermessung macht ein Computer, der den Körper vermisst. Das ist kein menschlicher Vermesser mehr, der mal einen guten oder schlechten Tag hat. Ein paar Nationen dachten, sie sind besonders schlau und haben vielleicht beim Messen den Schritt nach unten gezogen. Das erkennt der Computer jetzt, und dann gibt es ein rotes Licht. Dann bekommst Du nur noch eine Chance der Wiederholungsmessung. So lange es kein Grün gibt, darfst Du nicht starten. Und so stehen die Springer da wie Lämmchen.
Ein weiteres Maß, das wieder eingeführt wurde, ist das Rundummaß. Das wird durch den Schritt über die Schulter gemessen. Das verhindert, dass der Schritt nachträglich beeinflusst wird. Dadurch ist automatisch die Fläche der Anzüge zurückgegangen. Man muss anders springen. Ein aktuelles Beispiel ist Halvor Egner Granerud. Mit dem Material von letztem Jahr hatte er einen unheimlich aggressiven Sprungablauf. Er springt mit Allem, was er hat, einfach nur nach vorn.
Die Fläche des Anzugs hat ihn aufgefangen, er hat natürlich unheimlich viel Geschwindigkeit mitgenommen und konnte unten wegfliegen. Er versucht das immer noch. Aber wenn du die Fläche nicht hast, musst du ein bisschen gefühlvoller vom Tisch wegspringen. Du musst technisch sauberer springen. Auch andere Nationen tun sich damit schwer, die Polen oder die Slowenen zum Beispiel. Du musst eigentlich einen neuen Sprung lernen."
Sportschau: Kommt die Veränderung der Keile auch den technisch besseren Springern zugute?
Sven Hannawald: "Die Verkleinerung der Keile kommt hinzu. Die Keile kann ich hinten in den Schuh stecken, das bewirkt, dass der Ski nach dem Absprung schneller zu mir kommt. Ich kann den Sprung aggressiver laufen lassen, ich kann Vollgas geben. Weil die Keile zurückgenommen wurden, müssen die Springer mit mehr Gefühl springen.
Durch die zwei Regeländerungen sieht man, dass das Feld näher zusammengewachsen ist. Der Beste gewinnt immer noch, aber nicht mehr mit 15 oder 20 Metern Vorsprung, sondern nur noch mit drei oder vier. Es ist besser zu kalkulieren, was die Wettkampfsteuerung bei veränderten Bedingungen angeht. Mit ein bisschen Aufwind sind die Springer letztes Jahr zehn Meter weiter geflogen. Das wurde mit den neuen Regeln eingebremst, alle sind mehr zusammengerückt."
Sportschau: In den vergangenen Jahren sind deutsche Springer immer wieder als Mitfavoriten zur Tournee gefahren, Karl Geiger, Markus Eisenbichler oder auch Richard Freitag. Und wenn man sich so zurückerinnert, war es immer auch eine Kopfsache, warum es seit Sven Hannawald 2002 keinen deutschen Tourneesieger gab. Was können die Deutschen denn jetzt anders machen, damit die mentale Komponente keine negative Rolle spielt?
Hannawald: "Nehmen wir das Beispiel Innsbruck. Das ist eine Kopfsache, weil die Springer lesen, dass Innsbruck die Schicksalsschanze ist. Ich kann mich in meinem Jahr nicht erinnern, dass das für mich die Schicksalsschanze war. Das war die Geilste im Nachhinein. Genauso heißt es immer, dass Stefan Kraft, wenn er in Garmisch einigermaßen durchkommt, die Tournee gewinnen kann.
Das sind Dinge, die sich von außen in deinen Kopf reinsetzen. Und wenn du das ständig hörst, glaubst du irgendwie auch dran. Letztlich ist Innsbruck eine Schanze, auf der die Deutschen zigmal im Jahr trainieren. Sie wissen, wie sie funktioniert. Ein Fakt ist, dass man nicht so viel lesen sollte, dass man auch Social Media zurückschrauben sollte. Immer wieder kommen da Kommentare, die dich nachdenken lassen. Und du musst eh schon genug denken.
Eine Grundvoraussetzung für die Tournee ist, dass du als Springer zu hundert Prozent fit sein musst, dass du die Weihnachtsfeiertage mal ein bisschen entspannen kannst, um energiegeladen loslegen zu können. Und, dass du Störfeuern aus dem Weg gehst. Die Trainer sind im Drumherum da. Ob du durchkommst, liegt aber an dir. Du sitzt allein da oben, und du musst einen Weg finden, gewisse Dinge einfach zu ignorieren."
Sportschau: Mit dem Druck am besten in dieser Saison kommt Stefan Kraft klar. Der Österreicher führt überlegen den Weltcup an. Und er hat die Tournee bereits 2015 gewonnen. Worauf stützt sich denn die Hoffnung, dass Kraft nicht einfach alle Springen und überlegen die Tournee gewinnt?
Hannawald: "Die Hoffnung, die ich habe, ist, dass es in den seltensten Fällen so war, dass der Favorit sich am Ende auch durchgesetzt hat. Stefan hatte in Einzelspringen auch zu tun gehabt. Er hat sich in Klingenthal ein bisschen verloren. In Engelberg zuletzt hat er aber gezeigt, wenn er alles zusammenkriegt, ist er aus meiner Sicht nicht schlagbar. Wobei ich natürlich keinen Vergleich habe, wie es ist, wenn Karl Geiger, Andreas Wellinger, Pius Paschke und Stefan Kraft in einem Durchgang einmal einen perfekten Sprung hatten.
Wenn Karl seine Sprünge trifft, ist er brandgefährlich für den Sieg. Auch Andreas Wellinger und Pius Paschke. Stefan kommt die Regeländerung entgegen. Er hatte schon immer seinen Sprungstil, aber er ist so was von effektiv geworden. Die Weltcupführung gibt ihm zusätzliche Sicherheit. Und trotzdem: Es ist zwar eine Floskel, aber die Tournee hat ihre eigenen Gesetze."
Sportschau: Zwei große Springer der vergangenen Jahre, der Japaner Ryoyu Kobayashi und der Norweger Halvor Egner Granerud, kommen in diesem Jahr noch nicht so richtig zurecht. Ist mit ihnen bei der Tournee dennoch zu rechnen?
Hannawald: "Ryoyu setze ich mit auf die Liste der Überraschungskandidaten. Er hat in Einzelspringen schon gezeigt, dass er knapp dran ist. Ihm ist es noch nicht gelungen, ganz vorn zu landen. Wenn er mal alles zusammenbekommt, ist er knapp vorn. Wenn bei Stefan Kraft alles zusammenkommt, ist er weit vorn. Das sind die Unterschiede. Trotzdem kann es Verschiebungen Richtung Tournee geben. Weil zum Beispiel besonders gutes Material erst zur Tournee verwendet wird, ein neuer Schliff von dem Ski oder mal ein anderer Ski, der besonders schnell ist.
Alle Nationen halten sich mit zusätzlichen Waffen noch zurück. So können sich Dinge noch verschieben. Von Ryoyu bin ich schon von Anfang an ein kleiner Fan, er verbindet viel, was mich ja auch ausgemacht hat. Auf der anderen Seite sehe ich Halvor Egner Granerud in diesem Jahr nicht weit vorn, weil man sieht, dass es ihm schwerfällt, seinen alten Sprung loszulassen."
Sportschau: Und gibt es noch weitere Geheimfavoriten?
Hannawald: "Das war's dann schon fast. Einen Anze Lanisek könnte man noch mit ins Boot holen. Er glänzte teilweise schon. Er hat aber auch mit seiner Materialabstimmung zu tun. Speziell der Ski. Er nutzt einen Ski, der ist sehr effektiv. Der Grat ist hier aber extrem schmal, zwischen Supergut und Scheitern. Deswegen ist er schwer zu berechnen. Ich habe nicht so ein ganz klares Gefühl, er überrascht mich öfter mal. Die Topfavoriten sind die, die die besten Sprünge gezeigt haben. Das sind die Deutschen und die Österreicher."
Sportschau: Abschließend noch einmal zurück ins deutsche Team. Mit Markus Eisenbichler ist einer der Leistungsträger der vergangenen Jahre nicht dabei. Bundestrainer Stefan Horngacher kritisierte Eisenbichler zuletzt stark. Ist die Kritik berechtigt?
Hannawald: "Ich weiß, dass Markus Eisenbichler ein schwieriger Charakter ist, der aber trotzdem für Deutschland schon die Fahnen hochgehalten hat. Auch in diesen Phasen hat man gesehen, dass es mit Markus schwierig ist, ihn vom richtigen Weg zu überzeugen. Weil er immer denkt, nur er selbst ist auf dem richtigen Weg. Was Stefan Horngacher jetzt auch nach außen lässt, sind Dinge, die schon länger schwer zu tragen waren.
Für Markus gilt, entweder aufzuwachen oder beim eigenen Weg zu bleiben. Dann wird aber das Karriereende relativ nah sein. Ich bin auch sehr negativ überrascht. Ich habe ihn bei einem der letzten Herbst-Lehrgänge gesehen. Was ich da gesehen habe, war super. Er hat auch bei der deutschen Meisterschaft in Probedurchgängen und im Training dominiert. Ich habe auch viele Fragezeichen. Er dreht sich im Kreis und steht sich auf den Füßen. Die Trainer haben für ihn alles getan. Es ist jetzt an ihm, aufzuwachen."
Mit Sven Hannawald sprach Dirk Hofmeister