Vor 110 Jahren Richard Norris Williams - der Tennischamp von der Titanic
Am 1. September 1914 gewann Richard Norris Williams die amerikanischen Tennis-Meisterschaften, den Vorläufer der US Open. Ein Wunder, denn zweieinhalb Jahre zuvor hatte er den Untergang der Titanic überlebt.
Sie ist nicht zu übersehen, die Ahnengalerie auf dem Gelände des Billie Jean King National Tennis Center in Flushing Meadows. Im Schatten des riesigen Arthur Ashe Stadium sind auf 14 Metallmasten die Sieger der US Open abgebildet. Jeweils vier Frauen und vier Männer pro Mast. Von Virginia Wade und Arthur Ashe 1968 bis zu den Vorjahres-Champions Coco Gauff und Novak Djokovic.
Es ist schade, dass hier lediglich die Gewinner der "Open Era" seit 1968 gezeigt werden, als auch Profispieler bei Grand-Slam-Turnieren zugelassen wurden. Denn so erfahren die bis zu 70.000 Fans, die pro Tag zum letzten Major des Jahres kommen, nichts über die "Amerikanischen Tennismeisterschaften", wie das Turnier vorher hieß.
Und nichts über Richard Norris Williams, der das Turnier 1914 und 1916 gewann. Williams steht in einer Reihe mit Rod Laver, Jimmy Connors oder Pete Sampras - und ist dennoch eine Besonderheit. Denn er ist der einzige Sieger, der den Untergang der Titanic überlebt hat.
Bescheidener Mann, der nicht gern über sich redete
Wenn Quincy Williams von seinem Großvater Richard Norris Williams II. erzählt, wirkt er zögerlich, spricht von einem "bescheidenen Mann, der nicht gern über sich selbst redete." Quincy war neun, als sein Großvater 1968 starb. Das Meiste, was er über ihn weiß, hat er aus dessen Memoiren erfahren. Die Tenniserfolge. Seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg. Und die Erlebnisse am 15. April 1912.
Richard Norris Williams II. und sein Vater Charles Duane sind Passagiere auf der Titanic, diesem angeblich unsinkbaren Luxusliner, der an eben jenem Abend kurz vor Mitternacht im Atlantik einen Eisberg gerammt hat und dessen Bug bereits im Wasser verschwunden ist.
Vater wird vom Schornstein der Titanic erschlagen
Menschen schreien, Metall bricht, und Hilfe ist nicht in Sicht. Richard, 21 Jahre alt, angehender Harvard-Student und talentierter Tennisspieler, und sein Vater Duane Williams, ein Anwalt aus Philadelphia, haben zahlreichen Passagieren in die Rettungsboote geholfen, selbstlos und selbstverständlich. Die grauenvolle Gewissheit kommt gegen zwei Uhr morgens, als ihnen klar wird, dass für sie kein Boot mehr übrig ist und sie um ihr Leben schwimmen müssen.
Bevor sie ins eiskalte Wasser springen, wird Duane Williams von einem einstürzenden Schornstein erschlagen. Richard Williams erstarrt, doch ihm bleibt keine Zeit zum Trauern. Alles muss jetzt ganz schnell gehen. Er klettert auf eine Brüstung, springt fünf Meter tief und schwimmt "mit aller Kraft". Der Pelzmantel über seiner Rettungsweste erschwert das Entkommen. Aus einiger Entfernung sieht er schließlich, wie der Stahlkoloss um 2:20 Uhr untergeht - "ohne Lärm, völlig geräuschlos."
"Meine Beine brauche ich noch!"
Williams erreicht ein Rettungsboot, das umgekippt im Wasser treibt. Neben ihm klammern sich etwa 30 weitere Personen an den hölzernen Rumpf. Nur 13 von ihnen überleben die Stunden im eiskalten Atlantikwasser. Als das Passagierschiff "Carpathia" Williams rettet, ist er ausgezehrt und völlig unterkühlt. Seine Beine sind rot-lila, er kann sie nicht mehr fühlen. Ein Schiffsarzt legt ihm eine Amputation nahe, Williams schüttelt den Kopf. "Meine Beine brauche ich noch", entgegnet er, denn er hat schließlich noch viel vor - auf dem Tennisplatz.
"Um die Blutzirkulation voranzutreiben und wieder ein Gefühl in den Beinen zu bekommen, ist er für Stunden auf dem Schiff umhergegangen", sagt Douglas Stark. Er war von 2008 bis 2021 Direktor der Internationalen Tennis Hall of Fame in Newport/Rhode Island. 2012, anlässlich des 100. Jahrestages des Untergangs der Titanic, hatte die Tennis-Ruhmeshalle in einer Ausstellung an Richard Williams erinnert.
Die Masern sind schuld
Seine ersten Tennisschritte hatte der kleine Richard in der Schweiz gemacht. Aufgrund gesundheitlicher Probleme seines Vaters sind die Eltern noch vor Richards Geburt von Philadelphia nach Genf gezogen, um leichteren Zugang zu Heilbädern zu haben. Dort bringt Duane Williams seinem Sohn das Tennisspielen bei,
1911 ist Richard erstmals Schweizer Meister. Im Herbst 1912, Richard ist 21, fast er den Entschluss, an der Harvard-Universität zu studieren und dort Tennis zu spielen. Um ihn auf beide Aufgaben vorzubereiten, planen die Eltern, ihn bereits im Februar 1912 in die Vereinigten Staaten zu schicken. Richard soll an den Sommerturnieren teilnehmen und an der Milton Academy lernen. Das Internat bei Boston ist für sein Prestige und überzeugendes, akademisches Programm bekannt. Doch Richard bekommt die Masern und muss die Reise verschieben.
Als sein Vater von der Jungfernfahrt der Titanic hört, bucht er zwei Erste-Klasse-Tickets. Richard und Duane Williams gehören zu den 274 Passagieren, die am 10. April 1912 in Cherbourg in der Normandie, einem Zwischenhalt, an Bord gehen.
12 Wochen nach Katastrophe wieder auf Tennisplatz
Nur zwölf Wochen nach der Katastrophe spielt Richard Williams wieder ein Tennisturnier. Es kommt ihm entgegen, dass die Kleiderordnung weiße, lange Hosen vorschreibt. Denn seine Beine bleiben zeitlebens von den Erfrierungen gekennzeichnet. Trotzdem hat er Erfolg. Am 1. September 1914 gewinnt Williams in Newport/Rhode Island die amerikanischen Meisterschaften. Im Finale besiegt er den Champion der beiden vorangegangenen Jahre, Maurice McLoughlin in drei Sätzen.
Bei Triumph kein Wort über Titanic-Tragödie
In der "New York Times" ist von "einer der größten Überraschungen seit Ewigkeiten", einem "brillanten Spiel" und "einem völlig überforderten Titelverteidiger" zu lesen. Weitaus überraschender als Williams’ Sieg ist aus heutiger Sicht jedoch, dass es im Text ausschließlich um die sportliche Leistung des 23-Jährigen ging. Dabei hatte Williams seinen größten Sieg nicht an jenem Dienstag auf dem grünen Rasen des Newport Casino errungen, sondern am 15. April 1912 im eiskalten Wasser des Atlantiks.
Aus jener Nacht vor 112 Jahren stammt der Flachmann, den Quincy Williams besitzt. Nachdem die Titanic den Eisberg gerammt hatte, noch an Bord, war sein Großvater damit zu einer Bar gegangen, um ihn mit Alkohol füllen zu lassen. Der Schnaps, so Richard Williams' Hoffnung, könne ihn in den kommenden Stunden warm halten. Das Bordpersonal verweigerte jedoch den Ausschank mit der Begründung, die Bar sei geschlossen. Der Flachmann, sagt Quincy Williams, sei bis heute nie gefüllt worden.