vor Vereinwechsel Geld oder Ambition: Jonjoe Kenny könnte zur Zerreißprobe für Hertha BSC werden
Hertha BSC könnte Jonjoe Kenny noch im Winter verlieren. Sein Abgang wäre ein herber Schlag für die Berliner, könnte aber auch wichtiges Geld einbringen. So steht der Verein vor einer ähnlichen Entscheidung wie im vergangenen Transfersommer. Von Marc Schwitzky
"Gibt es bessere Zeitpunkte, um solche Spieler abzugeben? Sicherlich", zeigte sich Cristian Fiél im vergangenen Sommer ernüchtert. Der Trainer von Fußball-Zweitligist Hertha BSC musste kurz vor Ende des Transferfensters zwei schwere Verluste hinnehmen. Mit Haris Tabakovic verloren die Berliner den amtierenden Zweitligatorschützenkönig an Hoffenheim, mit Marc Oliver Kempf den designierten Abwehrchef an Como. Auf Beide hatte Fiél voll gesetzt. "Es steht außer Frage, dass wir zwei Spieler mit enormer Qualität verlieren", sagte er im August 2024. Trotzdem müsse man Entscheidungen des Vereins akzeptieren. "Das tue ich", versicherte der Übungsleiter.
Herthas Sportdirektor Benjamin Weber erklärte damals: "Bei beiden mussten wir auch mit Blick auf unsere wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dem Wechselwunsch zustimmen." Auch Weber tat sich schwer, die beiden späten Verkäufe hinzunehmen. Er stand vor der Entscheidung zwischen sportlicher Ambition und wirtschaftlicher Vernunft. Nun müssen Herthas Verantwortliche erneut solch eine Wahl treffen, denn ein weiterer folgenschwerer Abgang kündigt sich an. Laut mehreren Medienberichten steht Jonjoe Kenny kurz vor einem Abgang im Winter.
Sheffield United will Kenny – sofort
Demnach will Sheffield United den 27-jährigen Rechtsverteidiger noch im laufenden Transferfenster verpflichten. Der englische Zweitligist steckt mitten im Aufstiegsrennen und soll bislang rund eine Million Euro für Kennys Dienste anbieten, darüber hinaus würde Hertha rund eine halbe Million Euro an Gehalt sparen. Der hoch dotierte Vertrag von Kenny läuft im kommenden Sommer aus, bislang deutete nichts auf eine Vertragsverlängerung hin. Im Gegenteil, Medienberichten zufolge soll er dem Verein bereits mitgeteilt haben, zu Sheffield wechseln zu wollen. Demnach wäre es die letzte Chance des Hauptstadtvereins, eine Ablösesumme für den Abwehrspieler zu kassieren.
Es bleiben rund zehn Tage für die Entscheidung, ob Hertha seinen Rechtsverteidiger mitten in der laufenden Saison – schließlich hat die Rückrunde gerade begonnen – ziehen lässt.
Das macht Kenny so stark
Fakt ist: Wenn Hertha Kenny ziehen ließe, würde auf einmal hinten rechts eine riesige Lücke klaffen. Der 27-Jährige gehörte bereits letzte Saison zu den Dauerbrennern und Leistungsträgern der Berliner. Auch in der laufenden Spielzeit ist der so konstante Engländer nicht wegzudenken, er absolvierte jedes Spiel über die gesamte Laufzeit.
Mit sieben direkten Torbeteiligungen zeigt Kenny, welch große Offensivqualitäten er für Zweitliga-Verhältnisse besitzt. Zugleich gehört er zu den defensiv besten Außenverteidigern der Liga. Ob erfolgreiche Tacklings, abgefangene Bälle, defensive Klärungsaktionen oder verteidigte Dribblings – Herthas Rechtsverteidiger steht stets unter den besten 30 Abwehrspielern der gesamten 2. Bundesliga.
Darüber hinaus hat sich Kenny in den letzten eineinhalb Jahren zum Führungsspieler und Publikumsliebling entwickelt. Eine wundersame Entwicklung, denn zunächst war er noch eines der Gesichter der sportlichen Abwärtsspirale und den vielen Missverständnissen unter Ex-Manager Fredi Bobic. Nach dem Abstieg wollte er weg, doch musste bleiben. Kenny steckte nicht auf, ging voran und wurde zu einer der zentralen Säulen dieser Hertha-Mannschaft.
Der Ersatz fehlt
Ein Abgang würde auch deshalb schmerzen, weil kein direkter Ersatz im bestehenden Kader der Blau-Weißen bereitstünde. Jeremy Dudziak fällt bis zum Saisonende aus, Deyovaisio Zeefuik ist derzeit als Linksverteidiger gesetzt und Trainer Fiél sieht Michal Karbownik viel eher im zentralen Mittelfeld. Spieler wie Kevin Sessa oder Boris Lum, die jene Position in ihrer Karriere zumindest wenige Male bekleidet haben, wären allenfalls Verlegenheitslösungen.
Die Zukunft auf der Rechtsverteidigerposition soll Eigengewächs Julian Eitschberger gehören, doch der 20-Jährige ist derzeit an Rot-Weiss Essen verliehen. Dort ist Eitschberger gesetzt und zeigt gute Leistungen, doch er kann erst im kommenden Sommer nach Berlin zurückkehren. So berichtet "Reviersport", dass Hertha die Leihe nach Essen vertraglich bedingt nicht vorzeitig beenden kann. Damit ist klar: Hertha fehlt es auf den Außenverteidigerpositionen an Qualität – in der Breite wie in der Spitze.
Es bräuchte somit einen Neuzugang als Ersatz, doch ob Hertha im schwierigen Wintertransferfenster jemand geeignetes findet, der das Finanzplus aus einem Kenny-Verkauf nicht auffrisst und sogleich direkt weiterhelfen kann, ist äußerst fraglich.
Das alte Dilemma
Und so steht Hertha in demselben Spannungsfeld wie im vergangenen Sommer. Die eine Wahrheit ist, dass der Verein sich nach wie vor in einer wirtschaftlich überaus heiklen Lage befindet und eigentlich jeden Euro nehmen muss, den er kriegen kann. Die andere Wahrheit ist, dass – auch wenn die Saisonleistung durchwachsen ist – nur sechs Punkte auf die ersten drei Tabellenplätze bei noch 16 ausstehenden Spielen Hertha dazu verpflichten, alles dafür zu tun, bis zum Ende um den Aufstieg mitzuspielen und somit qualitativ konkurrenzfähig zu bleiben. Eben auch, weil nichts wirtschaftlich heilender wäre als die Rückkehr in die erste Liga und ihre TV-Geldtöpfe.
Ein Verkauf Kennys wäre eine herbe Schwächung, die Hertha nicht ohne weiteres auffangen könnte. Wie sehr späte Verkäufe im laufenden Betrieb ohne gleichwertigen Ersatz eine Mannschaft aus dem Gleichgewicht bringen können, haben die Abgänge von Tabakovic und Kempf auf beinahe dramatische Art und Weise aufgezeigt. Noch bis heute hat Hertha die Lücken im Sturmzentrum und der Innenverteidigung nicht adäquat schließen können.
Eine Zerreißprobe
Tabakovic und Kempf haben aber eben auch gezeigt, wie finanziell angeschlagen die "alte Dame" ist. Denn eigentlich hätte ein Verein mit diesen Aufstiegsambitionen zumindest für ein Jahr den bestmöglichen Kader zusammenhalten müssen, um wirklich konsequent oben angreifen zu können. Doch Hertha konnte die Angebote nicht ausschlagen.
Sollte Hertha dies auch nicht bei Kenny können, wäre die monetäre Notlage des Vereins noch eklatanter offengelegt. Können rund 1,5 Millionen Euro wirklich schwerer wiegen als die Chance auf den Aufstieg? Ein Verkauf ohne gleichwertigen Ersatz würde zusätzlich einer sportlichen Kapitulation gleichkommen und ein niederschmetterndes Signal an Mannschaft und Umfeld senden. Hertha kann derzeit schon kaum oben mithalten, wie dann ohne einen zentralen Leistungsträger und Führungsspieler der Mannschaft?
Die Personalie Jonjoe Kenny könnte somit zu einer Zerreißprobe in der laufenden Saison eskalieren.
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