Spielszene Spanien - Deutschland

NDR-Sport Fußball-Trends: Spaniens perfekte Mischung und was dem DFB-Team fehlt

Stand: 08.09.2024 10:44 Uhr

Europameister Spanien war bei der Fußball-EM in Deutschland das dominante Team - auch weil die Iberer das Spiel, das sie schon früher erfolgreich gemacht hat, weiterentwickelt haben. Wo steht die Nationalmannschaft um DFB-Coach Julian Nagelsmann im Vergleich?

Von Tobias Knaack

Kurz nachdem Deutschland 1990 in Italien den WM-Titel geholt hatte, postulierte Teamchef Franz Beckenbauer, dass die deutsche Nationalmannschaft auf Jahre hinaus "unschlagbar sein werde". Einfach zu groß erschien ihm der Pool an guten Fußballern in der frisch wiedervereinten Bundesrepublik. Es kam anders. Auch wenn es 1996 in England zum EM-Titel reichte, folgten auf den WM-Sieg 1990 insgesamt anderthalb Jahrzehnte fußballerische Armut des DFB-Teams.

Vergleichbare Aussagen waren nach dem spanischen EM-Triumph in Berlin in diesem Sommer von Trainer Luis de la Fuente nicht zu vernehmen. Hoffnung auf Jahre der fußballerischen Dominanz dürften sie sich auf der iberischen Halbinsel aber nach dem mit dem Titel gekrönten EM-Aufttritt durchaus machen. Die Leistungsträger sind im besten Alter, das Team taktisch exzellent eingestellt und technisch unangefochten - zumindest in Europa.

Man braucht nur das Endspiel gegen England nehmen und bekommt eine Idee, warum es so schwierig war, im Sommer an Spanien vorbeizukommen. Nach einem von der rechten Seite vorbereiteten Tor zum 1:0 wurde das siegbringende 2:1 von der linken Seite aus eingeleitet. Im Viertelfinale gegen Deutschland: 1:0 über rechts, 2:1 über links.

Davor und danach: Kopfbälle, Konter, Fernschüsse. Es gab wohl kaum einen Pfad, auf dem die Iberer auf dem Weg zum Titel nicht erfolgreich waren. Und damit steht die Art und Weise, wie die "Furia Roja" ihre Treffer erzielte, für die Variabilität, die Vielfältigkeit und den Variantenreichtum ihres Spiels.

Spanien offensiv variabel und defensiv stabil

Und mehr noch, so sagen es die Analysen des Global Soccer Networks (GSN), boten die Spanier während der EM "eine perfekte Mischung aus Ballbesitz, Präzision im Passspiel, Flexibilität in den Angriffsstrategien, Effizienz in der Chancenverwertung und defensiver Stabilität". Perfekt für die einen, zermürbend für die anderen, also die Gegner.

Denn das Team von Coach de la Fuente schaffte es so nicht nur, "das Spielgeschehen zu kontrollieren und konstant Torgefahr zu erzeugen, sondern auch den Gegner effektiv von Torabschlüssen abzuhalten und Gegentore zu vermeiden". 15:4 Tore über sieben Partien hinweg drücken die Dominanz in Offensive wie Defensive gut aus.

Sehr facettenreiches Spiel

Blickt man auf die spielerischen und taktischen Trends der zurückliegenden EM - Positionsspiel (insbesondere ins Mittelfeld einrückende Außenverteidiger), defensive Stabilität und Umschaltspiel, Gegenpressing, Offensiv-Variabilität und Kreativität sowie Fernschüsse - deckt die spanische Nationalmannschaft sehr viele dieser Facetten ab. Und hat sie mitgeprägt.

Beispiel defensive Stabilität - die einerseits mit einer hohen taktischen Disziplin und resoluten Zweikampfführung der Iberer zusammenhängt, andererseits aber auch mit einem hohen Ballbesitzanteil von knapp 60 Prozent.

Weiterentwicklung des "Tiki Taka"-Ballbesitzfußballs

Die spanische Offensive zeichnete gleich mehrere Faktoren aus, die die Variabilität und Kreativität des Teams unterstreichen: Positions- und Umschaltspiel, Dribblings und progressive Läufe. Also eine Weiterentwicklung des "Tiki Taka"-Ballbesitzfußballs, der die spanische Dominanz der Jahre 2008 bis 2012 mit drei aufeinanderfolgenden Titeln begründet hatte.

Denn einerseits hatte die Mannschaft laut GSN immer noch "eine bemerkenswerte Geduld im Aufbau von Angriffen", was sich in der hohen Anzahl an Positionsangriffen (knapp 34 pro Partie) und dem Ballbesitz ausdrückt. Andererseits war das de-la-Fuente-Team auch in der Lage, schnell umzuschalten und Konterangriffe zu starten - teilweise auch aus einem situativen hohen Pressing heraus.

Dynamik über Dribblings und progressive Läufe

Hinzu kommt eine enorme Stärke bei Dribblings und sogenannten progressiven Läufen, mit denen die gegnerische Abwehr durchbrochen und Räume geschaffen werden können. Im Schnitt 31 Dribblings - elf davon im letzten Drittel des Spielfeldes - und 25 progressive Läufe pro Partie hielten den Druck auf die Abwehr des Gegners konstant hoch - und kreierten Torchancen.

Die Mannschaft erarbeitete sich so sehr viele Schüsse im Strafraum (mehr als acht pro Spiel) und in der sogenannten "Danger Zone" - einem Bereich im und um den Strafraum herum, der laut GSN "statistisch eine hohe Wahrscheinlichkeit für Torerfolge aufweist" (knapp sechs).

Österreich ebenso dominant, Georgien überrascht

Andere Nationen waren in einzelnen Aspekten ebenfalls sehr gut unterwegs. Österreich etwa war bis zu seinem etwas überraschenden Achtelfinal-Aus gegen die Türkei nicht nur ein gefühlter, sondern auch den Daten nach legitimer Geheimfavorit. Das Team überzeugte mit ebenfalls sehr gutem Passspiel und vermochte Partien ähnlich wie Spanien zu dominieren.

Die Mannschaft des deutschen Trainers Ralf Rangnick erreichte etwa bei den Positionsangriffen, den Kontern, Dribblings und progressiven Läufen sowie der Zahl der Abschlüsse ähnlich gute Werte. Die Georgier - als Gegenpol - überraschten viele mit einer zwar ultra-defensiven, aber extrem effizienten und schnellen Kontertaktik.

Deutschland mangelte es im Vergleich an Dynamik

Deutschland hatte in seinem 4-2-3-1-System ebenfalls gute Ballbesitzstatistiken und bei seinen Abschlüssen eine hohe Effizienz. Der DFB-Elf ging aber die Explosivität und Dynamik des Spiels der "Furia Roja" - und auch in Teilen Österreichs - ab. Die nächsten Entwicklungsschritte für das Team von Bundstrainer Julian Nagelsmann liegen laut GSN insbesondere in den Bereichen der individuellen Technik, der Angriffsdynamik, des Pressings und der physischen Präsenz.

Insbesondere dynamische Bewegungen, die Spielzüge initiieren, sowie höhere Fähigkeiten in Dribblings und dem Lösen von Eins-gegen-eins-Duellen könnten dem deutschen Team helfen, seine Offensiv-Variabilität zu erhöhen.

Nachholbedarf in Pressing und Zweikampfintensität

Zudem sollten Nagelsmann und die Mannschaft laut GSN "an der Intensität und Aggressivität in Zweikämpfen arbeiten" - auch und gerade, um im Pressing Bälle zu erobern. Oder um sich bei Standardsituationen, einem weiteren Trend der EM, speziell in der Offensive zu verbessern.

Die Grundlagen sind den Daten nach sehr gut. Aus Sicht von Innenverteidiger Jonathan Tah könnte der Nationalmannschaft zudem zugute kommen, dass speziell bei Meister Leverkusen, aber auch in Stuttgart ähnlich gespielt wird, wie es die Nationalmannschaft anstrebt - und wie man den Abstand zu den Spanieren verringern könnte.

Viele hoffnungsvolle Mittelfeldspieler

"Sehr ähnlich sind die grundsätzliche Idee des Mannschaftsspiels und die Aktivität jedes Einzelnen", erklärte der 28-Jährige unter der Woche mit Blick auf die Spielweisen seines spanischen Club-Trainers Xabi Alonso und Bundestrainer Nagelsmann. Beide forderten von den Akteuren: "Hoch stehen, mutig sein, Konter frühzeitig unterbinden, die offensive Spieleröffnung suchen."

Es sind Aspekte, die das DFB-Team nach den Abtritten von Toni Kroos und Ilkay Gündogan in neuer Zusammensetzung wird vorantreiben und verbessern müssen. Der Anfang glückte mit dem 5:0 gegen Ungarn zum Auftakt in die Nations League schon mal. Hoffnung macht zudem, dass es eine ganze Liste an jungen Spielern gibt, wie zum Beispiel Bayern Münchens Aleksandar Pavlovic, die in die Rollen der abgetretenen Altmeister treten wollen und können. Und die eine spanische Dominanz auf Jahre hinaus unterbinden könnten.

Diese Mittelfeldspieler kommen für die WM 2026 in Frage
Spieler Alter Verein Aktueller GSN-Index Prognostizierter GSN-Index zur WM 2026
Pascal Groß 33 Borussia Dortmund 76,74 73,76
Emre Can 30 Borussia Dortmund 79,36 77,77
Aleksandar Pavlovic 20 FC Bayern München 74,16 78,43
Brajan Gruda 20 Brighton & Hove Albion 74,08 77,06
Rocco Reitz 22 Borussia Mönchengladbach 74,32 78,32
Angelo Stiller 23 VfB Stuttgart 76,85 80,47
Felix Nmecha 23 Borussia Dortmund 79,49 81,45
Merlin Röhl 22 SC Freiburg 77,01 80,31
Eric Martel 22 1. FC Köln 74,28 79,77
Paul Wanner 18 1. FC Heidenheim (Leihe FC Bayern) 71,54 77,64

Dieses Thema im Programm:
Sport aktuell | 07.09.2024 | 23:25 Uhr