Past Forward: Mehr als Gewalt und Pyro? Fußball-Ultras: Was wir von ihnen lernen können
Alexander Mennicke, geboren 1986, studierte an der Universität Leipzig Politik- und Kulturwissenschaften mit dem Forschungsschwerpunkt Fußball. In seiner Dissertation geht er der Frage nach ostdeutschen Identitäten und dem Vermächtnis der DDR in Fußballstadien nach. Über seine Erkenntnisse spricht er außerdem im ARD-Geschichtsformat "Past Forward: Mehr als Gewalt und Pyro? So ticken Fußball-Ultras wirklich!".
Als Historiker beschäftigen Sie sich mit dem Forschungsschwerpunkt Fußball und nationalen Identitäten. Inwiefern kann denn Fußball, gerade auch in Bezug auf die Fankultur, Identität stiften?
Alexander Mennicke: Fußball stiftet extrem viel Identität. Ich glaube, im Osten sind mehr Menschen in Fußballgruppen oder in Fanszenen organisiert, als es in anderen Organisationen der Fall ist. Das prägt natürlich, wenn man beispielsweise als junger Mensch in einer Fankurve aufwächst und bestimmte Diskurse miterlebt. Diskurse über die eigene Geschichte als Ostdeutscher oder über die Geschichte als ehemaliger DDR-Verein. Solche Geschichten und Erlebnisse beeinflussen und prägen auf eine ganz bestimmte Art das kollektive Gedächtnis. Erinnerungen werden so lebendig gehalten und Identität wird vermittelt.
Sprechen wir mal über so ein kollektives Ereignis: 1974 hat der 1. FC Magdeburg den Europapokal gewonnen. Was bedeutet dieser Sieg denn für die ostdeutsche Fußball-Identität?
Mennicke: Um diese Tragweite richtig zu verstehen, muss man sich das Fußballsystem der DDR genauer anschauen. Das System war nicht kommerzialisiert. Es gab keinen offenen Transfermarkt, keinen offenen Spielerwechsel. Die Vereine waren staatlich organisierte Körperschaften, die von bestimmten Betrieben oder Institutionen begleitet oder getragen wurden. Und Spielerwechsel oder Spielerauswahl erfolgte nicht nach leistungstechnischen Gesichtspunkten, sondern war letztendlich immer eine Regionalauswahl.
Magdeburg war in der DDR nicht die beste Mannschaft – das wollen bestimmt manche nicht hören, aber das war so. Und dann hat der FC es 1974 geschafft, die beste Mannschaft Europas zu werden. Das ist beachtlich. Das hat sich eingebrannt. Das trägt die Fans bis heute.
Weil wir gerade bei den Fans sind: Was hatte Fußball und die Fankultur in der DDR für eine Bedeutung?
Mennicke: Stadien waren Freiräume, wo Leute sich anders verhaltenn konnten, als sie das auf der Straße oder auf Arbeit gemacht hätten. Das war durchaus ein Ventil. Natürlich gab es auch direkte Angriffe auf diejenigen, die den Staat verkörpert haben - also auf die Polizei. Es gab "Mielke muss raus"-Rufe im Stadion. Es gab "Die Mauer muss weg"-Rufe. Das alles wäre auf der Straße natürlich so nicht möglich gewesen. Trotzdem würde ich nicht so weit gehen zu sagen, dass Fußballfankultur in der DDR ein Teil der Opposition gewesen wäre.
Diese ganzen Strukturen sind nach 1990 einfach kaputtgegangen. Manche würden sagen, sie wurden zerstört und das sei der Grund, warum sich der ostdeutsche Fußball bis heute nicht erholt hat. Alexander Mennicke | Kulturwissenschaftler aus Leipzig
Und wie hat sich die Fankultur nach der Wiedervereinigung weiterentwickelt?
Mennicke: Tatsächlich ist ganz viel kaputtgegangen. Die Leute hatten ganz andere Prioritäten. Die Zuschauerzahlen sind massiv gesunken. Die Vereine haben eine massive Abwertung bekommen - die bis heute fortwirkt. Die Vereinsstrukturen sind einfach kaputtgegangen. Ich glaube, manche würden auch sagen, sie wurden zerstört und dass das der Grund sei, warum sich der ostdeutsche Fußball bis heute nicht erholt hat.
Im Zusammenhang mit dieser Zeit nach 1990 fällt auch oft der Begriff "Baseballschlägerjahre". Was genau hat das mit Fußball zu tun?
Mennicke: Die Baseballschlägerjahre sind die Jahre ab 1990, wo vor allem zwischen Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen ein Klima von Gewalt herrschte und es auch zu Todesfällen kam. Wenn wir über Fußball in diesen Jahren sprechen, dann gab es da Überschneidungen von Personen, die sowohl Akteure der rechten Szene als auch der Hooligan-Szene waren. Da gab es eine gegenseitige Befruchtung innerhalb der Gewalträume. Wenn man jeden Tag Gewalt erlebt, mit Gewalt konfrontiert ist oder Gewalt ausübt, hat man natürlich einen ganz anderen Umgang mit Gewalt. Das heißt: Letzten Endes haben sich die Hooligans auch innerhalb dieser Gewaltträume der Baseballschlägerjahre professionalisiert. Durch diese parallele Szene haben letztendlich die ostdeutschen Hooligans profitiert und konnte sich so auch gegenüber dem Westen durchsetzen.
In der neuen ARD-Doku „Past Forward: Mehr als Gewalt und Pyro? So ticken Fußball-Ultras wirklich!“ geht es auch um die Frage, wodurch sich Ultras und Hooligans voneinander abgrenzen. Kannst du das differenzieren?
Mennicke: Das ist tatsächlich eine ziemlich schwierige Frage. Da muss man sich auch den Unterschied zwischen Osten und Westen in der Szene anschauen. 1998 entstand in Westdeutschland eine Ultra-Szene. Ein wichtiges Ereignis zu der Zeit ist der Angriff auf den französischen Polizisten Daniel Nivel, der im Juni 1998 bei der Fußballweltmeisterschaft von mehreren deutschen Hooligans angegriffen wurde. Wir haben, daraus resultierend, in Westdeutschland eine große Repression gegen die Hooligans. Die Ultras wollten und mussten sich sehr abgrenzen von dem Begriff und stehen für Gewaltfreiheit oder haben eine große Distanz zu Gewalt.
Das war im Osten tatsächlich nie der Fall. Das war eher oppositionell. In diesen Jahren hat sich ein starkes ostdeutsches Selbstbewusstsein manifestiert, das vor allem auch in Abgrenzung zum Westen funktioniert hat. Jetzt hieß es: "Wir sind authentischer, wir sind stärker, wir kommen alle aus der Platte." Der Plattenbau stand und steht bis heute für Marginalisierung oder sozialer Brennpunkt. Und das wurde einfach umgedreht. Und zwar ganz bewusst. Man hat dann sehr mit diesem Bild "Wir haben halt ein raues Leben. Bei uns spielt Gewalt eine große Rolle. Und ja, ihr seid eben welche, die sich von Gewalt distanzieren. Aber wir klauen Fanartikel oder überfallen Züge" gespielt.
Das heißt, die Fankultur im Osten war rechter als im Westen?
Mennicke: Das kann und sollte man so pauschal auf keinen Fall sagen. Wir haben im Osten eine größere Überschneidung in organisierte rechte Strukturen gehabt. Durch die Baseballschlägerjahre gab es eine größere Affinität in die rechte Szene. Im Westen gab es durch die sogenannten Gastarbeiter schon eine ganz andere Einwanderungskultur und daher einen anderen Umgang mit Migranten.
Man kann daher wirklich nicht pauschal sagen, dass die Fankultur Osten rechter war oder ist als im Westen. Alexander Mennicke |
Trotzdem sollte man aufpassen, das Thema einfach zu pauschalisieren. Denn auch im Westen gab es auch Gruppen wie die Borussenfront, die starke Überschneidung in die Neonazi-Szene hatte. In Hannover gab es zur FAP, der rechten Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei, Überschneidungen, die versucht haben, über den Fußball Mitglieder zu gewinnen. In Hamburg gab es die Hamburger Löwen, die für rechte Übergriffe verantwortlich waren, für Angriffe auf die Hafenstraße. Und zwar schon in den 1980er-Jahren. Man kann daher wirklich nicht pauschal sagen, dass es im Osten rechter war als im Westen.
Wie hat sich denn die ostdeutsche Identität in den Fußballstadien entwickelt?
Mennicke: Das ist durchaus unterschiedlich. Wir haben Gruppen, wo das eine ganz große Rolle spielt wie bei der SG Dynamo Dresden, dem 1. FC Magdeburg oder auch bei Hansa Rostock. Hier spürt und sieht man deutlich, wie diese gemeinsamen Erfahrungen, die teilweise aus der Abwertung der Vereine, aber auch aus eigenen persönlichen Biografien herrühren, Identität stiften. Da sind wir wieder beim Stadion, dem Raum, wo Identität an nachfolgende Generationen weitergegeben wird.
Vor ein paar Wochen hing bei einem Spiel des BFC Dynamo gegen Chemie Leipzig im Dynamo-Block eine DDR-Flagge, weil man sich als DDR-Rekordmeister sieht. Während sich die Gegenseite, also Chemie Leipzig, mit der Meisterschaft von 1964 identifiziert. Und dann haben mehrere Tausend Leute einfach "Stasi-Schweine" gerufen, obwohl es die Staatssicherheit gar nicht mehr gibt. Und dann sieht man da wirklich sehr schön, wie DDR-Geschichte im Stadion - und darüber hinaus auch ostdeutsche Identität - immer noch lebendig gehalten wird.