Biniam Grimay
Tourreporter

Eritreer kann Grünes Trikot gewinnen Biniam Girmay - Lust und Last der Geschichte

Stand: 15.07.2024 15:23 Uhr

Wenn Biniam Girmay gesund bleibt, nimmt er mit großer Wahrscheinlichkeit das Grüne Trikot der Tour de France mit nach Hause - und schreibt damit weiter Tour-de-France-Geschichte. Das liegt auch daran, dass er aus seinen Fehlern gelernt hat.

Von Michael Ostermann, Gruissan

Das Mobiltelefon ist zu einem Problem geworden für Biniam Girmay. Drei Etappensiege sind dem Radprofi aus Eritrea bei der Tour de France in diesem Jahr schon gelungen. Das allein hat dafür gesorgt, dass sein Handy nun schon seit Tagen "verrückt spielt", wie Girmay sagt. Allein nach seinem ersten Etappensieg in Turin hätten sich mehr als 600 Nachrichten angesammelt.

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Seitdem sind es nicht weniger geworden, sodass Girmay angesichts der Flut schon wichtige Nachrichten in der Chatgruppe seines Teams verpasst. "Zum Glück ist das Team ja immer um mich herum, zur Not klopfen sie an die Tür", sagt er. Nicht dass er am Ende noch den Bus zum Start verpasst.

86 Punkte Vorsprung auf Philipsen

Nur ein solches Malheur, eine Erkrankung oder ein Sturz könnte ihn wohl noch stoppen auf dem Weg zu seinem Triumph in Nizza, wo die Tour in diesem Jahr wegen der Olympischen Spiele in Paris endet. Girmay ist der Top-Sprinter der Frankreich-Rundfahrt in diesem Jahr, und darum trägt er nun auch schon seit fast zwei Wochen das Grüne Trikot des Punktbesten.

Sein Vorsprung auf den Belgier Jasper Philipsen, der das Maillot Verte im vergangenen Jahr gewann, beträgt nach 15 Etappen nun schon 86 Punkte. Und das bei nur noch einer potenziellen Sprintankunft am Dienstag in Nimes, für die der Etappensieger 50 Punkte erhält. Selbst wenn Philipsen die 16. Etappe gewinnen und Girmay leer ausgehen sollte - das Grüne Trikot würde der Eritreer behalten.

Grün ist jetzt das Hauptziel des Teams

Die fünf verbleibenden Teilabschnitte der Tour sind dann den Ausreißern und dem Kampf um den Gesamtsieg vorbehalten, bei denen im Ziel deutlich weniger Punkte für das Grüne Trikot verteilt werden. Dazu kommen jeweils 20 Punkte bei den Zwischensprints, bei denen sich Girmay zuletzt auch immer ein paar Zähler gesichert hat. "Das ist jetzt natürlich das Ziel, davor war es ein Traum", sagt er.

Ein Traum, für den er und sein Team allerdings schon früh einen Plan gemacht haben. Denn schon auf den ersten Etappen beteiligte er sich an den Zwischensprints, um Punkte zu holen. Und bei seinem Team Intermarché-Wanty haben sie sich jetzt ganz dieser Aufgabe verschrieben. "Das ganze Team wird sich dafür einsetzen", sagt der Manager des Teams, Jean-Francois Bourlart.

Immer ist bei Girmay alles historisch

So steuern Girmay und die Tour de France nun also auf den nächsten historischen Moment zu - mal wieder. Er ist es ja inzwischen gewohnt, immer der Erste zu sein. 2022 gewann er mit Gent-Wevelgem einen Klassiker, im selben Jahr gelang ihm auch ein Etappensieg beim Giro d'Italia. Nun also schon drei Etappensiege bei der Tour de France und ziemlich sicher das Grüne Trikot. Und immer war oder ist er der erste Schwarze Radprofi, dem das gelingt.

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Der Umgang damit ist nicht immer leicht gewesen für ihn, weil es häufig den Blick auf den Radsportler Biniam Girmay verstellt - ein Sprinter, der nicht nur in flachem Terrain glänzt, sondern vor allem dann, wenn die Route schwieriger wird, ein Klassiker-Profil hat. "Der einzige Schwarze zu sein im Peloton, ist nicht schön. Ich wünschte, es wären mehr", sagt Girmay. Die Rolle als Wegbereiter für den gesamten afrikanischen Radsport nimmt er zwar gerne an, sie ist aber auch eine Belastung.

Und wer die Bilder aus Asmara sieht, wo die Menschen die Etappensiege ihres Landsmannes auf den Straßen feiern, der bekommt eine Ahnung davon, was da alles nach seinen ersten großen Erfolgen auf ihn eingeprasselt ist. Wie sehr er nicht nur dort im Fokus stand. "Die vergangen zwei Jahre waren sehr schwer für mich", sagt Girmay. "Seit meinen Erfolgen 2020 hat alles auf meinen Schultern gelastet, der Druck der Medien und all die Erwartungen. Dadurch habe ich mich selbst unter Druck gesetzt."

"Die Mentalität eines Champions"

Die Folge war eine - für ihn selbst - enttäuschende Saison 2023. Lediglich zwei Siege, je einer bei der Katalonien-Rundfahrt und der Tour de Suisse standen am Ende zu Buche. Bei seinem Tour-de-France-Debüt landete er bei den Sprints meist nicht in den Top Ten. Einmal wurde er Dritter, einmal Sechster. Das war deutlich weniger als er und sein Team erwartet hatten.

"Ich habe viel gelernt aus meinen Fehlern im vergangenen Jahr", sagt Girmay nun. Vor allem, die Dinge gelassener anzugehen. Auch sein Training hat der junge Mann aus Eritrea umgestellt, nicht komplett, aber in den Details, Belastung und Regeneration anders gesteuert. "Man muss genau wissen, was der eigene Körper braucht, das ist es, was ich gelernt habe. Und dann haben wir ein paar Details geändert, nicht alles", erklärt er.

Dazu kommen zwei weitere Jahre Erfahrung als Radprofi. Denn auch das wird ja gerne vergessen: Girmay ist erst 24 Jahre alt, seine beste Zeit als Radprofi beginnt gerade erst. "Er war erst 22 Jahre alt, als er den Giro und Gent-Wevelgem gewonnen hat", sagt Aike Viskbek, der sportliche Leiter von Girmays Team. "Das ist ein Prozess, in dem es um viele Details geht, Ernährung, Trainingssteuerung. Aber Biniam hat die Mentalität eines Champions, er will lernen."

Nächster Schritt: Olympische Spiele

Dieser Lernprozess ist nun vorerst auf dem Höhepunkt angekommen. "Ich bin jetzt in der besten Form meines Lebens", hat er nach seinem dritten Etappensieg in Villneuve sur Lot gesagt. "Ich wache jeden Tag auf, gucke in den Spiegel und sage: Lass es uns noch einmal tun."

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Eine Chance bietet ihm die Strecke der Tour de France nun wohl noch dafür, es noch einmal zu tun. Am Dienstag bei der 188,6 Kilometer langen Flachetappe von Gruissan nach Nimes. Aber selbst wenn ihm dort nicht der vierte Etappensieg gelingt, eine schlechte Tour kann es ja jetzt schon nicht mehr werden. Nicht mal mehr eine schlechte Karriere.

"Jeder Sieg als Profi ist schwierig", sagt Girmay. "Aber in Frankreich drei Etappen zu gewinnen, das ist eine super, super Motivation und wird mir Kraft geben für den Rest meiner Karriere." Die soll nach der Tour direkt den nächsten Schritt machen bei den Olympischen Spielen in Paris. Die Favoriten für das Straßenrennen dort sind andere, aber Girmay will vorne mitmischen. Mit der Form der Tour ist er dort sicher ein Medaillenkandidat. Es wäre dann schon wieder ein Stück Geschichte.