Judoka im Griff

Zweifel an Klassifizierungen Betrugsverdacht wirft Schatten auf Para-Judo-Wettbewerbe

Stand: 29.08.2024 08:01 Uhr

Vorgeblich blinde oder stark sehbeeinträchtigte Para-Judokas treten nach ARD-Recherchen unter massivem Betrugsverdacht bei den Paralympics an. Der Blindensport-Weltverband schweigt. Über allem steht ein Klassifizierungssystem, das förmlich zum Tricksen und Täuschen einlädt.

Von Hajo Seppelt, Arne Steinberg, Lea Löffler und Jörg Mebus

Der eine Mann nimmt Spielkarten vom Tisch und sortiert sie locker in seiner Hand, der andere bedient sein Handy, tippt mit den Fingern auf den Bildschirm. Die Videos zeigen eigentlich nichts Ungewöhnliches – würden die beiden Männer nicht bei den Paralympics in Paris starten, im Para-Judo, in der Kategorie „J1“ – der Kategorie für vollständig blinde Athleten.

Die Videos wurden der ARD zugespielt und zeigen nur zwei von mehreren Betrugsverdachtsfällen im Para-Judo. Sie verstärken in der Szene zum Auftakt der Paralympics in Paris ein ohnehin schon vorhandenes Klima aus Misstrauen, Wut und Resignation. Der zuständige Blindensport-Weltverband IBSA steht in der Kritik, denn er setzt für das Internationale Paralympische Komitee (IPC) ein Klassifizierungssystem um, das zum Tricksen und Täuschen förmlich einlädt.

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Ukrainer Marchenko verdächtigt Teamkollegen

Yuri Marchenko kennt dieses System genau, und der Kampf dagegen, so sagt er, habe ihn das Ticket für Paris gekostet. Der 40 Jahre alte Para-Judoka aus der Ukraine, Vize-Europameister von 2022 und seit seinem 16. Lebensjahr blind, ist Betrugsverdachtsfällen in der eigenen Nationalmannschaft nachgegangen. Seine Motivation dafür ist simpel und hat einen erschütternden Kern.

Menschen, die wirklich behindert sind, sollen zu den Paralympics.
Para-Judoka Yuri Marchenko

"Wir haben gerade einen Krieg, viele Menschen sind behindert, ohne Beine, ohne Arme, ohne Augen. Ich möchte, dass Menschen, die wirklich behindert sind, zu den Paralympics kommen und sich selbst verwirklichen können", sagt Marchenko: "Und solange es Gesunde gibt, die sich Klassifizierungen erschleichen, werden diese Menschen nicht aufgenommen."

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Er selbst, behauptet er, sei von einem vorgeblich stark sehbeeinträchtigten Teamkameraden im Auto chauffiert worden. Marchenko fand heraus, so sagt er, dass einige durch die Klassifizierung als blind oder sehbeeinträchtigt eingestufte ukrainische Judoka einen aktuell gültigen Führerschein besäßen. Dabei schließen selbst die vorgegebenen Einschränkungen der nicht vollständig blinden Athleten deren Teilnahme am Straßenverkehr kategorisch aus. Ein Augenarzt sagte der ARD, Autofahren sei unter diesen Umständen absolut unmöglich.

Vier von insgesamt sieben dieser Judokas, die Marchenko für Betrüger hält, stehen auf der Startliste der Paralympics, kämpfen in der Champ-de-Mars-Arena von Paris ab dem 5. September um Medaillen. Marchenkos Verdacht ist bis heute nicht aufgeklärt.

Trunkenheit am Steuer

Er selbst ist in Paris nicht dabei. Marchenko behauptet: Nachdem er kompromittierendes Material - darunter auch ein Dokument, das einem Para-Judoka seines Landes Trunkenheit am Steuer bescheinigt - an Funktionäre des ukrainischen paralympischen Komitees (UPC) geschickt hätte, sei er nicht mehr für das Nationalteam berücksichtigt worden. Das UPC wies diese Vorwürfe auf ARD-Anfrage zurück. Marchenko sei aus sportlichen Gründen nicht in Paris dabei. Zudem erklärte das UPC, es könne Führerschein-Daten nicht überprüfen.

Unter anderem der ukrainische Politiker und Parlamentsangehörige Yuri Kamelchuk, der Marchenko unterstützt und den die ARD zu dem Fall befragt hat, hält das eingereichte Dokument und die Angaben des Para-Judokas für authentisch. Auch den Weltverband IBSA, so sagt Marchenko, habe er informiert – es sei keine Reaktion gekommen. Auf eine ARD-Anfrage äußerte sich IBSA zu diesem Punkt nicht.

Im Para-Judo wird von allen Sportarten am meisten gemogelt.
Ein Klassifizierer zur ARD

Die Ukraine ist nicht das einzige Land, das in der Szene in der Kritik steht. In einem Chat von Klassifizierern, den die ARD einsehen konnte, wird auch über Vorgänge mit Bezug zu Aserbaidschan diskutiert. Einer dieser Klassifizierer, der anonym bleiben möchte, sagte der ARD: "Im Para-Judo wird von allen Sportarten am meisten gemogelt. Ich glaube, das unterschreiben alle Klassifizierer. Jemand, der mehr sieht als sein Gegner, hat natürlich Vorteile. Ich höre immer wieder, dass gerade diese Leute dann Gold gewinnen. Und Aserbaidschan ist eines der Länder, mit dem wir genau diese Probleme haben."

Experte: Test zur Klassifizierung leicht manipulierbar

Im Auftrag von IBSA oder - im Rahmen der Paralympics - des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) sind weltweit knapp 50 Klassifizierer für die Beurteilung und Einstufung der Para-Judoka in die Klassen J1 (blind) und J2 (sehbeeinträchtigt) zuständig. Das vorgeschriebene Verfahren, in Teilen ähnlich dem eines Sehtestes beim Augenarzt, halten die Spezialisten selbst für leicht manipulierbar. Zu viel, so ein Kritikpunkt, hänge vom subjektiven Eindruck des Klassifizierers ab.

"Wer glaubhaft vortäuscht, gar nicht oder nur schlecht zu sehen, der kommt in der Regel durch", sagt der Klassifizierer. Auch Begleit-Dokumente wie medizinische Befunde, die die Athleten einreichen müssen, seien manipulierbar, sagt er, auch dort werde oft gemogelt. Der ukrainische Judoka Marchenko behauptet, Spitzen-Athleten würden von Medizinern, die Kenntnis von allen Klassifizierungs-Vorgängen haben, vor den Untersuchungen intensiv gebrieft, damit sie auch ohne Sehbeeinträchtigung als Para-Judoka eingestuft werden.

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Argwohn gegenüber Aserbaidschan

Ein Fall, der die Probleme des Systems und dessen Intransparenz offenbart, ist der der Aserbaidschanerin Shahana Hajijewa. Sie wurde in Tokio 2021 überraschend Paralympics-Siegerin in der J2-Klasse, gilt seitdem als ein Star der Szene. Das IPC band sie in eine Werbekampagne für die Paralympics in Paris ein. Doch die 24-Jährige startet dort gar nicht. Sie wurde nicht mehr zugelassen, weil sie bei ihren letzten beiden Klassifizierungen laut internen Unterlagen wichtige Dokumente zum Status ihrer Einschränkung offenbar nicht mehr einreichte.

Ob sie ihre noch in Tokio anscheinend belegte Sehbeeinträchtigung plötzlich nicht mehr nachweisen konnte, oder ob andere Gründe vorliegen, ist unklar. Fragen dazu beantwortete das aserbaidschanische Paralympische Komitee nicht, auch Hajijewa selbst reagierte nicht auf eine Anfrage.

Aserbaidschan, das in Tokio im Para-Judo mit sechs Goldmedaillen mit Abstand erfolgreichste Nation war, steht auch noch aus einem anderen Grund unter besonderer Beobachtung. Der Präsident des Blindensport-Weltverbandes IBSA ist der Aserbaidschaner Ilgar Rahimow. Er gilt als Vertrauter des autoritären Staatsoberhauptes Ilham Alijew und ist im eigenen Verband hochumstritten.

"Versuchte feindliche Übernahme“

In einem offenen Brief von 2022 griffen Präsidiumskollegen den damaligen Vizepräsidenten Rahimow vehement an, warnten vor einer "versuchten feindlichen Übernahme" des Verbandes durch den Aserbaidschaner. Sie prangerten "kontinuierliche Drohungen" durch Rahimow an, warfen ihm "Einschüchterung, Mobbing und Belästigung" vor. Präsident von IBSA wurde Rahimow trotzdem. Mit Blick auf den offenen Brief sprach der Verband, der wie das IPC seinen Hauptsitz in Bonn hat, auf ARD-Anfrage von einer „böswilligen Agenda“ gegen den Aserbaidschaner.

Geglättet sind die Wogen rund um IBSA noch lange nicht. Unter Rahimows Führung wurden im vergangenen Juni die Chefs der Klassifizierer von ihren Aufgaben entbunden. Nur wenige Wochen später bekamen in Kairo Para-Judokas die Gelegenheit, sich noch für Paris klassifizieren zu lassen, obwohl die Frist längst abgelaufen war. Wer dort noch nachträglich das Startrecht für Paris erhielt, ist unbekannt. Nach ARD-Informationen hatten sich in Kairo auch zwei Aserbaidschaner für den Zulassungstest angemeldet.

Ein ARD-Team war bei dem Termin in Ägypten vor Ort, den eine Vertreterin des IPC beaufsichtigte. Sie warnte alle Klassifizierer in einer E-Mail, die der ARD später zugespielt wurde, eindringlich vor einer Kontaktaufnahme: "Lassen Sie sich nicht auf die ARD-Journalistin ein. Und sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie bereits von ihr kontaktiert worden sind." Die Frage stellt sich: Hat das IPC etwas zu verbergen?

IBSA gab auf ARD-Anfrage an, der Termin in Kairo sei wegen der Klassifizierung des ägyptischen Goalball-Teams angesetzt worden. Fragen im Zusammenhang mit Para-Judoka-Klassifizierungen in Kairo beantwortete IBSA nicht.

Richtungweisendes Gerichtsurteil nach Paris

Das Klassifizierungssystem im Para-Judo erscheint besonders anfällig, aber auch aus weiteren Paralympics-Sportarten kommen immer wieder Meldungen über Betrugsversuche bei den Einstufungsprozeduren. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Diskussionen darüber auch nach den Paralympics in Paris nicht abebben – auch, weil vor dem Landgericht Köln gerade ein richtungweisender Prozess verhandelt wird.

Rechtsanwalt Christof Wieschemann

Der Bochumer Sportrechtler Christof Wieschemann

Dort vertritt der Bochumer Sportrechtler Christof Wieschemann momentan einen Para-Athleten, einen Handbiker aus den USA, in einem Rechtsstreit gegen das IPC. Das Ziel: Künftig sollen auch Sportler gegen Klassifizierungen von Konkurrenten juristisch vorgehen können. Dieser Rechtsweg ist derzeit durch die Regularien ausgeschlossen. „Ich teile die Auffassung, dass das Klassifikationssystem, so wie es heute ist, nicht fortbestehen kann. Gerade weil es zu willkürlicher Behandlung herausfordert“, sagte Wieschemann im ARD-Interview. Der Jurist glaubt, der Fall habe das Potenzial, das paralympische System in seinen Grundfesten zu erschüttern. Das Landgericht Köln fällt das Urteil Mitte September.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau Paralympics 2024 | 29.08.2024 | 10:00 Uhr