Über Florida nach Paris Gina Lückenkemper - die mit dem Dackel
Gina Lückenkemper ist die einzige Deutsche in der internationalen Trainingsgruppe von Lance Brauman in Florida. Hier arbeitet sie täglich neben Leichtathletik-Superstars - und für ihren Traum: das Olympiafinale in Paris.
Es weht ein frischer Wind über das National Training Center in Clermont. Die Sonne kämpft sich an diesem Montagmorgen um 9.30 Uhr mühsam durch die dicken Wolken über Zentral-Florida, das Thermometer zeigt elf Grad Celsius. Die Tartanbahn ist noch nass. Das gesamte Wochenende hatte es geregnet, vor dem Training gab es einen letzten Schauer. Von wegen "Sunshine State".
Gina Lückenkemper hat eine dicke Weste an, als sie sich für die erste Einheit des Tages warm macht. Trainer Lance Brauman trägt gar Handschuhe und die Kapuze seines Hoodies über seiner weißen Basecap. Er kommt aus dem dunkelroten Blechschuppen links neben dem Eingang zur Anlage. Was von außen wie eine Baracke oder eine etwas größere Garage wirkt, ist die Umkleide. Betonfußboden, Holz-Spinde, einige Trainingsgeräte. Kein Glamour, kein Glanz - alles sehr rustikal.
Ein ganz normaler Sportplatz als Medaillen-Schmiede
Überhaupt ist es beim ersten Anblick nur schwer vorstellbar, dass auf diesem Sportplatz, denn mehr ist dieses National Training Center tatsächlich nicht in dieser Art Mulde hier in Clermont, knapp 40 Kilometer westlich von Orlando, Leichtathletik-Superstars geformt werden. Stars wie Noah Lyles, der dreimalige Sprint-Weltmeister (100 Meter, 200 Meter, 4x100 Meter-Staffel) aus den USA. Oder Südafrikas 400 Meter-Weltrekordhalter und Rio-Olympiasieger Wayde van Niekerk.
Der Weg zur Anlage führt über den Legends Way. Gina Lückenkemper fährt diesen Weg der Legenden jeden Tag entlang. Sie ist die einzige Deutsche in der internationalen Trainingsgruppe von Brauman. Im Herbst 2019 entschied sie sich für einen Wechsel zum Starcoach in die USA. Damals war sie als EM-Zweite 2018 nach Florida gekommen. Mittlerweile ist Lückenkemper Doppel-Europameisterin über die 100 Meter und mit der 4x100 Meter-Staffel, sowie WM-Dritte mit der Staffel - und wurde 2022 zu Deutschlands “Sportlerin des Jahres” gewählt.
Lückenkemper - "Training läuft wahnsinnig gut"
Sie kommt regelmäßig für mehrere Wochen im Jahr nach Clermont. Derzeit ist die 27-Jährige seit Anfang Januar hier. "Das Training läuft wahnsinnig gut. Ich bin super zufrieden, bekomme im Kraftraum eine persönliche Bestleistung nach der nächsten hin", sagt sie im Gespräch mit der Sportschau.
Wegen der nassen Bahn muss das Training umgestellt werden. Lückenkemper absolviert einige leichte Läufe. Doch Brauman hatte ohnehin nur eine "leichte Einheit" geplant, wie er gegenüber der Sportschau betont. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem Kraftraum.
Trainer puscht Lückenkemper besonders
Das Gym ist knapp 500 Meter entfernt. Es gehört zu einem Gesundheitszentrum, das an eine Klinik angeschlossen ist. Braumans Gruppe trainiert in einem speziellen Bereich hinten links in der Ecke.Vergangene Woche seien alle im Kraftraum "nur bis 80 Prozent hochgegangen", deshalb werde es diese Woche "ein bisschen extremer", sagt Lückenkemper.
Sie legt sich einen schwarzen Spezialgurt an, der den Rücken schützen soll, falls sie sich verhebt. Lückenkemper beginnt mit “Cleans”, zu deutsch: Umsetzen. Sie geht in die Hocke, hebt die Langhantel explosiv an und richtet sich dabei auf. 60 Kilogramm, fünf Wiederholungen. Quasi zum Aufwärmen. Sie habe “immer ein bisschen Angst” vor dieser Übung, sagt Lückenkemper. Brauman wisse das und pusshe sie deshalb derzeit besonders.
Effektivität statt Emotionen
Mit verschränkten Armen steht der 53-Jährige beim zweiten Satz vor seiner Athletin. Diesmal hat Lückenkemper mehr Gewicht aufgelegt, muss drei Wiederholungen machen. Die Deutsche schlägt sich auf die Oberschenkel, dann packt sie die Hantel an. "Gut", kommentiert Brauman ihren ersten Versuch. "Füße bisschen weiter nach hinten", sagt er nach dem zweiten und abermals "gut" nach dem dritten. Er ist nicht für seine Emotionen bekannt, sondern eher für die Effektivität seiner Einheiten.
Als Lückenkemper vor etwas mehr als vier Jahren zu ihm kam, musste sich ihr Körper erstmal an seine Methoden und Umfänge gewöhnen. "Sie hatte keine Erfahrungen mit unserer Art von Krafttraining. Und wir trainieren hier ziemlich hart", sagt der Coach. Mittlerweile habe sie sich angepasst und verstehe den Sport "von der professionellen Seite besser".
“Bedeutend stärker als in den Vorjahren”
Und Lückenkemper ist seit Jahren nicht mehr verletzt gewesen, konnte so jede Saison auf die vorherige aufbauen. Sie sei jetzt "bedeutend stärker als in den Vorjahren", bewege mittlerweile Gewichte, die sie 2023 "nicht mal ansatzweise" habe heben können, sagt sie.
Vergangenes Jahr ist Lückenkemper von Januar an bis zur WM im August in Budapest jeden Monat bei Wettkämpfen gestartet. Sie sei zwar "konstant so schnell gelaufen, wie noch nie", betont sie stolz, dafür jedoch bei der WM, wo im Halbfinale das Aus kam, "ein bisschen ausgebrannt" gewesen, ergänzt Brauman. Zu viele Events, zu viele Läufe, um jedes Mal wieder vollkonzentriert und fokussiert sein zu können.
Weniger Wettkämpfe, mehr Zeit in Florida
Deshalb haben beide die Planung für diese Saison umgestellt, die Hallensaison ausgelassen. Zudem wird Lückenkemper mehr Zeit in Florida verbringen. Inmitten ihrer Trainingsgruppe, anstatt das von Brauman vorgegebene Pensum allein in Deutschland zu absolvieren. Im November ist die gebürtige Westfälin 27 Jahre alt geworden. Für eine Sprinterin sei das "die Prime" betont sie.
Dass Lückenkemper sich in der Hochzeit ihrer Karriere befindet, kann sie in diesem Jahr gleich zweimal beweisen - bei der EM im Juni in Rom und bei den Sommerspielen in Paris. Als Goldmedaillen-Gewinnerin von München 2022 ist Lückenkemper über die 100 Meter bereits für die kontinentalen Titelkämpfe qualifiziert. "Ich habe einen Titel zu verteidigen, das nehme ich natürlich nicht auf die leichte Schulter", sagt sie.
Herkulesaufgabe 100-Meter-Finale in Paris
In Paris wird ihr dann die gesamte Weltelite gegenüberstehen, all die Super-Sprinterinnen aus den USA und Jamaika. Es sei wohl noch nie so schwer gewesen, ein 100-Meter-Finale bei Olympia oder einer WM zu erreichen wie derzeit, sagt Brauman. Ziel sei es trotzdem, dass Lückenkemper es in den Endlauf schaffe. Dafür müsse natürlich zur richtigen Zeit alles passen - und genau dafür versuche man, alles zu tun.
Nach knapp 80 Minuten ist die Einheit im Kraftraum vorbei. Lückenkemper steigt in ihren Mietwagen. Die Fahrt zur ihrem Apartment dauert sieben Minuten. Sie parkt direkt vor dem Aufgang, geht hinauf in den ersten Stock und wird von Akira freudig empfangen, als sie die Wohnungstür aufschließt. Die zweijährige Dackelhündin ist immer mit dabei und sei auch eine willkommene Abwechslung gegen das Alleinsein, sagt Lückenkemper. Denn obwohl sie viele Stunden mit ihrer Trainingsgruppe verbringe, sei ihre Zeit in Florida "primär von Einsamkeit geprägt".
Lückenkemper greift zur Leine und geht mit Akira eine Runde um den Apartment-Block. Seit zwei Jahren hat sie ihre Wohnung, verbringt mehrere Monate hier, geht täglich mehrmals mit Akira Gassi. Ihre Nachbarn wüssten trotzdem nicht, wer sie sei, oder was sie mache, sagt Lückenkemper und fängt an zu lachen. "Für die bin ich einfach die mit dem Dackel."