Caster Semenya im Exklusiv-Interview "Es ist die Hölle, du arbeitest in einem Tunnel ohne Licht"
Caster Semenya hat ihre aktive Karriere beendet, dennoch kämpft sie weiter für Anerkennung. Und gegen das Startverbot für Athletinnen mit unterschiedlicher Geschlechtsentwicklung und erhöhten Testosteronwerten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte soll bald darüber entscheiden, inwieweit die "Testosteron-Regel" in der Leichtathletik diskriminierend ist. Semenya, so erzählt sie es im Exklusiv-Interview mit der Sportschau in Genf, geht es auch um Gerechtigkeit für andere Athletinnen und Sportarten.
Sportschau: Frau Semenya, Sie haben eine Zeitlang gar keine Interviews gegeben. Was hat sich geändert, dass Sie nun doch öffentlich darüber sprechen, was Sie erlebt haben?
Caster Semenya: Ich brauchte vor allem Zeit für mich selbst, um all das zu verarbeiten, was geschehen ist. Erst dann wollte ich mich äußern. Jetzt fühle ich mich bereit, mental wie körperlich. Es geht um mich und um die Leute, die mich unterstützen. Ihnen möchte ich die Geschichte aus meiner Sicht erzählen.
Die meisten kannten mich bisher als Athletin. Ich habe auf der Laufbahn mein Bestes gegeben. Jetzt versuche ich, als Mensch mein Bestes zu geben. Den Leuten etwas über Humanität und Menschenrechte beibringen, dafür zu kämpfen, was richtig ist. Das möchte ich gerne der ganzen Welt zeigen.
Sportschau: Sie sind seit 2019 nicht mehr bei großen internationalen Wettkämpfen die 800 Meter gelaufen, ihre Paradedistanz, auf der sie Weltmeisterin und Olympiasiegerin wurden. Ihr letztes Rennen hatten Sie im vergangenen Jahr. Wie sehr vermissen Sie das Laufen?
Semenya: Ich laufe ja immer noch, jeden Tag. Die Wettkämpfe vermisse ich eigentlich nicht, ich habe alles erreicht, was ich wollte. Ich mache weiter meine Trainingssessions, gehe auf die Bahn und gebe mein Bestes, aber vor allem für mich. Laufen bedeutet für mich immer noch Freiheit. Gott hat mir die Möglichkeit gegeben, erfolgreich Wettkämpfe zu bestreiten. Dieses Kapitel hat er nun für mich beendet, ein neues hat begonnen.
Ich möchte die Stimme, die Möglichkeit, die Hoffnung für die nächste Generation sein. Ich möchte ihnen etwas beibringen über Bescheidenheit, Würde, Respekt, Selbstwahrnehmung. Was es heißt, sich selbst zu lieben, andere Menschen zu akzeptieren, wie sie sind. Ich möchte aber auch Veränderungen im Sport anstoßen. Die Stimme der Athleten zählt nichts, das Sagen haben die Mächtigen. Es geht darum, dass die Athleten an erster Stelle kommen müssen.
Ich möchte ein Vorbild für die Jungen sein, damit sie künftig ihre Stimme erheben, sich nicht mehr verstecken, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Und sich nicht mehr von den Mächtigen ausbeuten lassen. Das ist jetzt meine Aufgabe, ich bin glücklich, dort wo ich bin. Man kann mir verbieten, weiter Wettkämpfe zu bestreiten, aber nicht zu leben, als Individuum.
Sportschau: Wenn wir auf Ihre aktive Karriere zurückblicken, dann verbindet man mit Ihnen vor allem einen Streit über Fairness, über die adäquate Defintion von Geschlecht im Frauensport. Wie haben Sie diese Kontroverse erlebt mit Ihnen im Mittelpunkt?
Semenya: Ich bin mit 16, 17 Jahren erstmals in den internationalen Ergebnislisten aufgetaucht. Zu der Zeit habe ich noch keine Rennen gewonnen, und es hat auch niemand danach gefragt, ob ich weiblich genug bin. Erst als ich anfing zu gewinnen, kam die Diskussion darüber auf. Auf einmal ging es um die Frage: Wenn ich als Frau etwas erreiche, dann kann daran doch etwas nicht richtig sein.
Gegen diese Ungerechtigkeit werde ich immer kämpfen, und mich für Inklusion einsetzen und für Menschenrechte. Und ich werde mich weiter gegen die Verantwortlichen im Weltsport erheben, die die Rechte von Athleten missachten. Die Funktionäre berufen sich in ihren Reden auf Nelson Mandela: dass Sport die Kraft habe, die Welt zu ändern. Aber sie halten sich nicht daran. Stattdessen diktieren sie den Athleten ihre Regeln, befördern damit Diskriminierung.
So wie jeder Mensch das Recht hat zu leben, so hat er auch das Recht, an der Welt des Sports teilzuhaben. Das herrschende System aber im Weltsport ist das alte Muster von Ausgrenzung, Missbrauch und Diskriminierung. Wir brauchen eine neue, universelle Sprache, eine andere Führung. Wenn der Sport für alle da sein soll, wie es immer behauptet wird, dann müssen wir dies vorantreiben. Lasst uns aufhören, Menschen in unterschiedliche Gruppen aufzuteilen, sie auszugrenzen. Darum geht es, weniger um die Anerkennung für mich.
Sie schreibt vor, dass Athletinnen mit unterschiedlicher Geschlechtsentwicklung ("Differences in sex development", DSD) ihren Testosteronspiegel im Blut auf unter 2,5 Nanomol pro Liter senken und zwei Jahre lang unter diesem Grenzwert bleiben müssen, um in den Laufdisziplinen weiter in der Frauenklasse starten zu können. Der Weltverband hatte im März 2023 den verschärften Grenzwert für Läuferinnen mit DSD-Merkmalen wie Semenya festgelegt und damit begründet, dass ein erhöhter Testosteronwert mutmaßlich einen sportlichen Vorteil verschaffe.
Die zweifache Olympiasiegerin Semenya, die seit 2019 nicht mehr bei internationalen Wettbewerben starten darf, weigert sich Medikamente einzunehmen, um den Testosteronwert abzusenken, und ging gerichtlich über mehrere Instanzen gegen das Startverbot vor. Im Juli 2023 errang die 32-Jährige vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen ersten Erfolg.
Das Gericht in Straßburg erkannte Semenyas Beschwerde "über eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und geschlechtlicher Merkmale" als glaubwürdig an. Das Schweizer Bundesgericht, das in einem vorangegangenen Urteil die Testosteron-Regel des Leichtathletik-Weltverbands gestützt hatte, ging dagegen in Berufung.
Der Fall wird nun vor der Großen Kammer des Menschenrechts-Gerichtshofs verhandelt. Das erwartete Urteil stellt eine endgültige Entscheidung dar und könnte womöglich Signalwirkung haben, für weitere Läuferinnen und Sportarten.
Sportschau: Aber die Frage der Anerkennung hat Sie Ihre ganze Karriere lang begleitet. Sie haben ein Buch über Ihr Leben geschrieben. Sie schreiben sehr detailliert über viele Dinge, die Ihnen passiert sind. Auch als Sie 18 waren und zur WM nach Berlin gereist sind und einen Geschlechtertest machen mussten.
Semenya: Ich würde sage, das Schwierigste daran war, dass Leute einen verletzen und aufdringlich vorgehen wollten. Es ist eines der schwierigsten Dinge zu sagen: Wollen Sie das wirklich tun? Und so unwohl ich mich auch fühlte, ich musste dafür sorgen, dass sie sich auch nicht wohl fühlten. Es musste klar sein: Sie haben mich in diese Situation gebracht, und sie wissen, dass sie das Falsche tun. Es war schwierig, da werde ich nicht lügen.
"Ich bin eine Frau"
Sportschau: Woraus ziehen Sie Ihre Kraft?
Semenya: Die Stärke entsteht daraus, wenn man nichts verheimlicht. Du weißt wer du bist. Ich habe nichts zu verbergen. Ich komme aus einer Familie, die es mir ermöglicht hat, die Beste zu sein, die ich sein kann, die es mir ermöglicht hat, mich selbst zu lieben, mich selbst zu schätzen und mich selbst zu akzeptieren. Ich schöpfe die Kraft aus meinen Lieben, weil ich mich geliebt fühle, weil ich mich willkommen fühle und mich selbst nicht in Frage stelle.
Ich kenne meine Identität. Ich spreche nicht von Überzeugungen. Ich spreche von dem, was ich weiß. Und das weiß ich, seit ich ein kleines Mädchen war. Mir wird niemand sagen, dass ich ein Mann bin oder etwas anderes. Ich bin eine Frau. Ich weiß, dass ich eine Frau mit Unterschieden in meinem Körper bin, und das gestehe ich mir zu. Wenn du die Person, die du bist, nicht ablehnst, ziehst du die Kraft aus ihr, weil du zu dir selbst gehörst.
Sportschau: Medien und Verbände haben Sie unter Druck gesetzt und öffentlich in Frage gestellt. Was denken Sie darüber?
Semenya: Ich habe mehr als zehn Jahre lang geschwiegen. Jetzt komme ich zum Reden. Es macht keinen Unterschied. Der einzige Unterschied besteht darin, dass es aus dem Maul des Pferdes kommt (englische Redewendung für Dinge, die von der direkt betroffenen Person gesagt werden, d. Red.).
Ich erzähle Ihnen, wie ich mit der Situation umgegangen bin, wie ich mich verhalten habe: Ja, es war schwer. Es war nicht einfach, aber es gab mir die Gelegenheit, etwas über mich selbst zu lernen. Was mir am wichtigsten ist, ob ich mich selbst glücklich mache. Bin ich mit dem Leben, das ich lebe, zufrieden? Ja. Journalisten kamen in mein Dorf. Für mich war es gut, weil sie mich berühmt gemacht haben. Sie haben über mich gesprochen. Ich ließ sie reden. Ich habe ihnen erlaubt, mich aufzubauen. Sie haben die Arbeit für mich erledigt.
Sportschau: Wegen der Regeln des Leichtathletik-Weltverbandes haben Sie Medikamente zur Senkung Ihres Testosteronspiegels genommen. In ihrem Buch nennen Sie es Gift. Könnten Sie sagen, wie schwierig die Einnahme dieser Pillen war und was mit Ihnen passiert ist? Haben die Medikamente Sie verändert?
Semenya: Es ist die Hölle, du arbeitest in einem Tunnel ohne Licht. Es verändert alles. Es verändert deine Gefühle. Du fühlst dich jeden Tag schwach. Du bist jeden Tag krank. Aufgebläht. Ich fing an, Panikattacken zu bekommen. Ich hatte keine Hoffnung. Du schwitzt jede Nacht. Du isst ununterbrochen. Du nimmst zu. Es verändert dich einfach als Mensch. Das ist nicht das Leben, das man haben will. Man muss verstehen, dass es sich um ein Gift handelt, das nicht für den Körper bestimmt ist. Es ist für etwas anderes gedacht. Es ist nicht für eine Frau gedacht. Es ist einfach eine Katastrophe. Es könnte zu Krebs führen. Nur aus Verzweiflung bin ich das Risiko eingegangen.
Sportschau: Die Regularien des Verbandes wurden später erfolgreich angefochten. Wie war dieser Moment für Sie?
Semenya: Es war eine Erleichterung. Du fühlst dich wieder lebendig. Du kehrst zu deinem alten Selbst zurück, fängst wieder an, wie ein normaler Mensch zu leben, weil es dir so vorkommt, als wärst du im Gefängnis gewesen. Ich betrachte es als die Situation von Nelson Mandela, nachdem er 27 Jahre im Gefängnis war. Sie können sich sein Gefühl der Freude vorstellen. Mir ging es genauso. Ich fühlte mich befreit von der Unterdrückung.
"Werden sie ihren Kindern beibringen, andere Frauen zu hassen, weil sie anders sind?"
Sportschau: Sie haben bei Olympia in Rio 2016 Gold gewonnen und waren wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es gab viele Beschwerden von anderen Athletinnen, insbesondere aus Europa. Wie haben Sie die Zeit in Rio erlebt?
Semenya: Für mich war es wunderschön. Für mich war es etwas Besonderes, weil mein Fokus nicht mehr auf Mittelmäßigkeit lag. Mein Fokus lag nicht mehr auf dem, was andere Leute Negatives sagen. Mein Fokus lag mehr darauf, meinen Wettbewerb zu laufen und zu gewinnen. Es ging darum, den Sport zu feiern. Ich wusste, dass da eine Menge Gerede war. Aber ich konzentriere mich auf Dinge, die ich kontrollieren kann.
Aber sie tun mir leid, denn sie sind Schwestern wie ich. Am Ende des Tages ist die Frage: Was werden sie ihren Kindern beibringen? Werden sie ihren Kindern beibringen, andere Frauen zu hassen, weil sie anders sind? Werden sie ihren Kindern beibringen, aufgrund der Hautfarbe zu diskriminieren? Denn was in deinem Kopf verankert ist, das tust du auch weiterhin.
Das ist es, was Sebastian macht (gemeint ist Sebastian Coe, Präsident des Leichtathletik-Weltverband World Athletics, d. Red.). Ich werde nicht hier sitzen und Angst haben, die Wahrheit zu sagen. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mit Männern laufen. Aber ich bin kein Mann. Ich bin einfach eine Frau. Der Unterschied besteht darin, dass ich mit Unterschieden geboren wurde. Sebastian ist alt. Er ist der alte Mann. Er wird bald in den Ruhestand gehen und zu Hause sitzen. Wir aber werden uns weiterhin für das einsetzen, was richtig ist.
Sportschau: Der Weltverband betrachtet Sie biologisch als Mann. Es gibt noch strengere Regularien über alle Laufdistanzen. Sie nennen das in ihrem Buch "persönlich" - warum?
Semenya: Ich glaube, dass sie den Frauensport respektlos behandeln. Warum ist es notwendig, Frauensport zu regulieren? Warum? Wovon profitieren sie? Die Regulierung des Frauensports geschieht, weil sie eine Grenze ziehen wollen. Damit Frauen niemals so großartig sind wie Männer.
Denn jetzt, wo wir anfangen, über Gleichheit zu reden, reden wir über Fairness. Im Moment gibt es null Respekt. Ich bin zu hundert Prozent sicher, dass Sie schockiert wären, wenn Sie Gehälter sehen würden, wie Frauen bezahlt werden und wie Männer bezahlt werden. Wenn Sie also über Gleichberechtigung sprechen wollen, beginnen Sie damit, Männer und Frauen gleich zu behandeln.
Aber es beginnt zunächst bei den Athletinnen und Athleten selbst. Wir müssen anfangen, unsere Meinung zu äußern. Wir müssen damit beginnen, unsere Meinung dazu zu äußern, wie diese Verbände geführt werden sollen. Denn diese Verbände gibt es wegen der Sportlerinnen und Sportler. Sie sind da, um uns zu schützen. Sie sind nicht da, um uns auszubeuten.
Und dann geht es es um das IOC. Wenn das IOC das Mutterorgan ist, muss es anfangen, entschlossen zu sein und diese Organisationen zu blockieren, um zu sehen, ob sie für die Regulierung in Frage kommen. Das IOC muss damit beginnen, die Athleten zu schützen. Wenn wir Wandel herbeiführen wollen, müssen wir meiner Meinung nach Druck ausüben. Und der größte Unsinn besteht darin, zu sagen, es sei notwendig, eine andere Frau zu diskriminieren, weil eine andere Frau mit Unterschieden geboren wird.
Sportschau: Haben Sie das Gefühl, dass der Weltverband Sie Ihrer besten Jahre beraubt hat?
Semenya: Auf jeden Fall. Ich war natürlich in den besten fünf Jahren. Natürlich haben sie mir das gestohlen. Aber so ist das Leben. Ich würde für mich behaupten: Ich wurde so geschaffen, wie ich bin. Ich bin dazu bestimmt, die Hoffnung für die junge Generation zu sein, einfach für diese junge, aufstrebende Generation zu kämpfen. Ich habe alles gewonnen, was ich wollte. Aber ja, definitiv. Es war ein Raub am hellichten Tag.
Sportschau: Möchten Sie auch für andere Athletinnen ein Vorbild sein?
Semenya: Ja. Ich möchte den Sportlerinnen zeigen, dass sie eine Stimme haben. Sie sind diejenigen, die entscheiden. Stellen Sie sich den Tag vor, an dem wir uns alle dazu entschließen würden, nicht zu rennen. Wir Erwachsenen haben die Macht, es zu ändern, wenn wir nicht glücklich sind. Wenn wir uns vor den Führungskräften fürchten, werden sie uns unsere Chancen verwehren.