WM-Historie der Frauen DFB-Frauen - was Silvia Neid und Tina Theune raten
Die ehemaligen Bundestrainerinnen Silvia Neid und Tina Theune haben für die deutschen Fußballerinnen zur Abreise nach Australien einen guten Rat: WM-Titel werden nur über eine gute Defensive gewonnen. Daran hapert es gerade.
Auffällig war es allemal, was Neid kürzlich zum Jubiläumstreffen der Weltmeisterinnen von 2003 trug: ein Hosenanzug in Pink und ein T-Shirt mit der Aufschrift "Peace". So schlenderte die erfolgreiche Spielerin und Trainerin des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), die an bislang allen Titeln der Frauen in irgendeiner Form beteiligt war, entspannt bei einer Ehrenrunde über den Rasen des gut besuchten Stadions am Bieberer Berg in Offenbach, als die deutschen Fußballerinnen vor zweieinhalb Wochen ihr erstes WM-Testspiel gegen Vietnam (2:1) austrugen.
Und besonders fröhlich wirkte die 59-Jährige an jenem Samstag, als die Regie in Offenbach die Klänge des Klassikers "Anyplace. Anywhere. Anytime" von Nena und Kim Wilde einspielte. Ein Ohrwurm, der vor 20 Jahren in den amerikanischen Stadien die musikalische Untermalung auf dem Weg zum ersten WM-Titel gebildet hatte. "Als es unser amerikanischer Sicherheitsmann geschafft hatte, dass dies vor dem Aufwärmen gegen die USA gespielt wurde, gehörte uns das Stadion in Portland", erzählt die einstige Bundestrainerin Tina Theune im Gespräch mit der Sportschau.
Das Halbfinale 2003 gegen die USA als Höhepunkt
Das Halbfinale gegen den Titelverteidiger und Gastgeber (3:0) gilt noch heute als eines der besten Spiele in der Geschichte des deutschen Frauenfußballs. Interessant wirkt rückblickend die Rollenverteilung zwischen Theune und Neid bei jener kurzfristig wegen des Sars-Virus wieder in die USA vergebenen WM 2003.
So erinnert sich Mannschaftsführerin Bettina Wiegmann daran, wie die Cheftrainerin Theune eher die leisen, einfühlsamen Töne bevorzugte, während die Co-Trainerin Neid auch mal lauter, strenger wurde. Abwehrchefin Ariane Hingst gibt noch zu bedenken, dass Athletik oder Spieltempo mit heute nicht mehr zu vergleichen gewesen wären, "aber für damalige Verhältnisse haben wir richtig gut Fußball gespielt".
Bettina Wiegmann jubelt mit den Mitspielerinnen und der Trophäe bei der WM 2003
Der Favoritenkreis ist 2023 groß wie nie
Dass der Verband das Jubiläumstreffen seiner ersten Weltmeisterinnen einige Wochen vorzog - erst am 12. Oktober jährt sich eigentlich das Golden Goal von Nia Künzer im Finale gegen Schweden (1:0 n.V.) in Carson City - war Absicht: Die schönen Erinnerungen kurz vor der nächsten WM in Australien und Neuseeland (20. Juli bis 20. August) wieder mit Leben zu füllen, kann vor einer solch schwierigen Mission nicht schaden, die das aktuelle Nationalteam nach der Ankunft in Sydney und dem Bezug des Quartiers im kleinen Örtchen Wyong vor sich hat.
Die Konkurrenzsituation ist bei der neunten Auflage einer Frauen-WM groß wie nie; acht, neun Teams zählte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg zum Favoritenkreis, aber die 55-Jährige weiß natürlich, dass ein Vize-Europameister und aktueller FIFA-Weltranglistenzweiter eigentlich kaum etwas anderes als den Titel anstreben kann. "Wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass wir das Potenzial und die Qualität haben, um diesen Titel mitzuspielen, dann würden wir das Ziel auch nicht ausrufen", sagt sie daher. In einer bundesweit angelaufenen Werbekampagne heißt es recht forsch: "Wir, die mit Stolz für unser Land spielen. Und um den 3. Stern."
Die Defensive ist das A und O
Neid findet solche Ansprüche berechtigt: "Wir haben eine supergute Qualität, viele beidfüßige Spielerinnen und sehr viel Tempo." Doch auch der Leiterin der Abteilung Trendscouting Frauenfußball ist nicht entgangen, dass eine deutsche Basistugend gerade bröckelt: die Defensivlust. Vor allem bei der vermasselten WM-Generalprobe gegen Sambia (2:3) wirkte das Verhalten nach Ballverlusten erschreckend. Da stimmten weder die Raumaufteilung noch das Zweikampfverhalten. Voss-Tecklenburg forderte umgehend eine "andere Mentalität und Körperlichkeit" in der Arbeit gegen den Ball ein.
Neid sieht in der "Lust aufs Verteidigen“ einen Schlüsselfaktor: "Deshalb sind wir auch 2007 Weltmeister geworden, weil sich die Gegnerinnen an unserer Abwehr die Zähne ausgebissen haben. Die Defensive ist bei den Turnieren das A und O." Sie hat dafür ein gutes Beispiel parat: "Diese angesprochene Defensivlust war beispielsweise bei den Olympischen Spielen 2021 sehr auffällig, wo Kanada Olympiasieger wurde. Kein Mensch hätte das gedacht, aber sie haben es geschafft, mit ihrer guten Arbeit gegen den Ball zu gewinnen."
Eigentlich war die deutsche Elf bei der EM in England auf einem guten Weg, kassierte erst im Halbfinale gegen Frankreich (2:1) das erste Gegentor. Torhüterin Merle Frohms musste sich bis dahin oft fragen lassen, ob sie Nadine Angerer nacheifere, die bei der WM 2007 ohne Gegentor geblieben war.
Großes Zutrauen trotzdem ins aktuelle Team
Neid wird aus Budgetgründen nicht in Australien und Neuseeland vor Ort sein, was sie insgeheim sehr bedauert: Sich Eindrücke vor Ort im Stadion zu verschaffen, ist noch mal etwas anderes, als die Spiele auf dem Scouting-Feed am Laptop zu analysieren. Und was hält Theune eigentlich von der aktuellen Generation? "Ich traue der Mannschaft zu, Weltmeister zu werden. Ganz klar. Sie hat im vergangenen Jahr bewiesen, zu was sie fähig ist: Sie hat ganz Deutschland mitgerissen", sagt die 69-Jährige.
"Ich bin mit Martina Voss-Tecklenburg häufiger in Kontakt", erzählt sie, die vor den Olympischen Spielen 2000 in Sydney die heutige Bundestrainerin aus dem Nationalteam warf, um die Unruhe nach deren Trennung von Inka Grings fern von der DFB-Auswahl zu halten. Längst haben sich alle wieder versöhnt. Theune preist Voss-Tecklenburg als "beste Lösung für den DFB: Sie geht ihren Weg, sie hat Charisma und Ausstrahlung. Sie ist authentisch und bringt das rüber, was sie denkt."
Der Bundestrainerin schreibt sie den richtigen Umgang zu: "Die Spielerinnen von heute sind anders, sehr selbstbewusst. Man muss mit ihnen gut kommunizieren, auch Freiraum lassen, dann gehen sie den Weg mit." Theune ist immer noch aktiv, hat für den DFB eine Patenschaft für den Blindenfußball übernommen. Als FIFA-Mentorin gehört sie zu einer Gruppe von namhaften Trainern und Trainerinnen, die auf Einladung des Weltverbandes zum Finalwochenende nach Sydney fliegt. Und natürlich hofft sie insbesondere, dass die deutschen Fußballerinnen dann noch nicht ihren Heimflug angetreten haben.