Box-Weltmeister Gualtieri Als Underdog in die Geschichtsbücher?
Vincenzo Gualtieri war Anfang des Jahres noch ein Boxer, den nur echte Insider kannten. Der unverhoffte WM-Titelgewinn im Juli katapultierte den Wuppertaler über Nacht in die Weltspitze. Am Sonntagmorgen (15.10., ab 4.30 Uhr im Livestream bei der Sportschau) hat er die Chance, einen zweiten Titel hinzuzugewinnen - und damit endgültig Geschichte zu schreiben.
Es ist oft ein schmaler Grat. An einem Tag bist du Weltmeister, ein gefeierter Held. Kurz darauf bist du wieder ein Thema für die Box-Nerds. Vincenzo Gualtieri lächelt unbeeindruckt, als er auf dieses Risiko angesprochen wird: "Ich schaue nicht darauf, was sein könnte", sagt der Box-Weltmeister im Interview mit der Sportschau: "Ich gehe optimistisch in den Kampf und mache mir keine großen Gedanken darüber."
Die Underdog-Story des Jahres
Seit dem 1. Juli ist Gualtieri Profi-Box-Weltmeister. Der erste aus Deutschland mit einem der vier größten Titel einer Gewichtsklasse seit 2016. Eine echte Box-Sensation. "Ich habe das auch erst eine Woche später realisieren können", erinnert sich der Weltmeister: "Es hat sich einiges geändert - das meiste im positiven Sinne".
Der Weg zu diesem Titel war steinig und ungewöhnlich. Vincenzo Gualtieri stand nie in der allerersten Reihe – weder bei den Amateuren, noch in den vergangenen Jahren bei den Profis. Box-Legende Graciano Rocchigiani entdeckte einst Gualtieris Potenzial und wurde Förderer und Mentor, bis er bei einem tragischen Unfall im Jahr 2018 ums Leben kam. Doch Gualtieri machte es sich danach zur Aufgabe, Rockys Vision zu erfüllen. Als der Wuppertaler im Juli die Chance seines Lebens bekam, griff er entschlossen zu. Er lieferte den besten Kampf seiner bisherigen Karriere und wurde Champion.
Titelkampf in den USA als Risiko
Umso erstaunlicher ist es, dass Gualtieri diesen Titel schon knapp drei Monate später wieder auf's Spiel setzt - und dann direkt zu einem Titelvereinigungskampf in die USA fliegt. "Die Chance auf eine Titelvereinigung gibt es nicht alle Tage", sagt Gualtieris Promoter Ingo Volckmann im Interview mit der Sportschau: "Und das Angebot war finanziell top."
Die Regularien des Verbands IBF schreiben die erste Titelverteidigung innerhalb von sechs Monaten vor. Gualtieri und sein Promoter hätten sich also auch noch etwas Zeit lassen können. Und zumindest auf dem Papier wären leichtere Aufgaben als ein Kampf gegen einen anderen Gürtelträger in den USA möglich gewesen. Das Risiko, den IBF-Gürtel direkt wieder zu verlieren, wäre bei einem Kampf in Deutschland deutlich geringer. "Wir hätten gern auch noch zwei oder drei Kämpfe in Deutschland gemacht. Aber die Möglichkeiten, hier mit dem Boxen Geld zu verdienen, sind im Moment nicht besonders groß", sagt Ingo Volckmann.
Außenseiter trotz WM-Titel
So ist Vincenzo Gualtieri auch als aktueller Weltmeister der Underdog. Doch die Aufgaben ähneln sich auf erstaunliche Weise. Wie Gualtieris jüngster Gegner Falcao wartet wieder ein Ex-Elite-Amateur auf den Wuppertaler. Außerdem trifft er erneut auf einen Linkshänder, der vor allem für Agressivität und Schlaghärte steht.
Janibek Alimkhanuly kommt aus Kasachstan und gewann 2013 WM-Gold im olympischen Boxen. Der US-Promotion-Gigant "Top Rank" will ihn bei den Profis zum Nachfolger der kasachischen Mittelgewichts-Ikone Gennady Golovkin aufbauen - der dominierte die Gewichtsklasse über Jahre hinweg und wurde in den USA zum Weltstar. Alimkhanuly steht auf diesem Weg erst am Anfang. Doch er besiegte bereits namhafte Gegner bei den Profis und gewann im August 2022 den vakanten Gürtel des bedeutenden Weltverbands WBO. Gualtieris Gürtel der IBF scheint als nächster Schritt schon fest eingeplant.
Gualtier-Gegner Janibek Alimkhanuly
Mammut-Aufgabe als große Chance
Zwei große WM-Titel nach nur 15 Profikämpfen - es wäre ein Marketing-Traum für den US-Promoter. Doch auch für Vincenzo Gualtieri ist der Kampf bei allem Risiko wieder eine große Chance. Es gab überhaupt erst drei Boxer aus Deutschland, die mehr als einen großen WM-Titel zeitgleich halten konnten: Max Schmeling, Dariusz Michaelczewski und Sven Ottke. Und seit Max Schmeling konnte kein Deutscher Boxer mehr einen WM-Kampf in den USA gewinnen. Gualtieri würde nicht nur Box-, sondern auch Zeitgeschichte schreiben.
Auf einen Heimvorteil wie im Juli kann der Wuppertaler dabei nicht setzen. Er wird seine starke Leistung nochmal steigern müssen, um in Houston siegen zu können. Doch er glaubt unumstößlich an diese Möglichkeit. "Mich motiviert das irgendwie", sagt er: "Ich wollte schon immer in den USA kämpfen. Viele meiner Freunde und meine Familie werden da sein. Ich mache es zu meinem Heimspiel". Fehlenden Mut oder Sportsgeist kann man also weder Gualtieri, noch seinem Promoter vorwerfen. "Unser Trainer ist sich wieder sicher: übersteht Vincenzo die fünfte Runde, wird er auch diesen Kampf gewinnen", so Ingo Volckmann: "Wenn wir keine Chance gesehen hätten, hätten wir das Angebot bei aller Lukrativität nicht angenommen."
Die Liste der Boxer, die wie versehentlich gestartete Silvesterraketen in die Aufmerksamkeitssphären der Sportfans schossen, um kurz darauf verglüht wieder abzustürzen, ist lang. Doch Vincenzo Gualtieri hat die Chance für einen weiteren Knall zu sorgen, wenn kaum jemand damit rechnet. Spätestens dann sollte er nicht mehr der Underdog sein.
Den Kampf Vincenzo Gualtieri gegen Janibek Alimkhanuly um die WM-Titel der IBF und WBO inkl. des Vorkampfs Keyshawn Davis vs. Nahir Albright sehen Sie im Livestream auf Sportschau.de und in der Sportschau App - am 15.10.2023 ab 4.30 Uhr.
Die Sportschau am Sonntag, den 15.10.2023 wird ebenfalls ausführlich über den Kampf berichten.