WM im Eisschwimmen Zu kalt gibt's nicht
Skifahren im dicken Anzug? Lächerlich. Hier kommt Wintersport für die Harten. Die Weltmeisterschaft im Eisschwimmen lockt in diesen Tagen über 750 Teilnehmer aus der ganzen Welt nach Molveno in Italien.
"Aiaiaiaiiiii" und "Ulalaaaa" tönt es aus dem eiskalten Wasser. Knapp über zwei Grad zeigt das Thermometer an. Einmal drin, ziehen sich alle Muskeln zusammen, die Haut wird innerhalb weniger Sekunden krebsrot, der Atem dampft und der Körper möchte eigentlich ins Warme flüchten. Kann er auch – aber bitte erst nach dem Schwimmen.
Auch Inge Wolfs aus den Niederlanden tritt an. Sie ist 65 Jahre alt, zieht ihren blauen Mantel aus und sagt: "Warum zum Teufel mache ich das hier nochmal?" Mit sichtlicher Anspannung steigt sie die Treppe in den Pool hinab. Ihr Begleiter feuert sie an, als gäbe es kein Morgen mehr. Und ein paar Minuten später und kommt sie mit Gänsehaut und einem breiten Grinsen wieder raus: "Deshalb mache ich das", freut sie sich zitternd und sieht nun entspannt und zufrieden aus.
Neoprenanzüge nicht erlaubt
Der Pool glitzert in der italienischen Sonne und über Mittag wird die Luft hier etwas wärmer. Aber die Zuschauer sind trotzdem bis unter die Nasenspitze eingepackt in Schals, Mützen und dicke Mäntel. Der Wind ist beißend und lässt die Augen tränen. Das alles hält die Athleten aber nicht ab, hier auf Kommando die Bademäntel und Ponchos abzulegen und unter freiem Himmel in normalen Badeklamotten zu schwimmen. Neoprenanzüge sind nicht erlaubt, Badekappen und Brillen natürlich schon.
Stefan Runge ist an der Reihe. Er taucht einmal kurz das Gesicht unter, atmet tief durch, dann ertönt ein lauter Piepton über die Lautsprecher und das Wasser beginnt zu brodeln. Das Publikum jubelt so laut, dass die Dolomiten wackeln. Der italienische Wettkampfsprecher animiert das Publikum charmant, noch ein bisschen lauter anzufeuern. Schließlich geht es hier nicht nur um Ruhm und Ehre, sondern um echte Weltmeistertitel.
Wie eine große Familie
Soviel Trubel erlebt der kleine Ort Molveno nicht alle Tage. Die meisten Gäste kommen zum Skifahren in die Region. Es gibt auch einen See hier, der grünblau funkelt, aber vor allem Sommertouristen anzieht. Dass aber, was jetzt hier gerade abgeht, Schwimmen in einem unbeheizten Außenpool, ist neu und für die meisten Einheimischen und "ziemlich verrückt", wie Marco Rivieccio vom Hotel direkt gegenüber meint. "Es ist großartig, dass so viele Nationen hier in dieser Woche gemeinsam Sport machen, feiern und Molveno kennenlernen. Aber von uns würde zu dieser Jahreszeit niemand ins Wasser gehen", lacht er.
Mittags gibt es eine kurze Pause, dann gehen die Wettbewerbe weiter. Auf allen Distanzen und in allen Lagen – Brust, Freistil, Rücken und Delfin – gibt es Läufe. Jung und Alt, Profis, Para-Schwimmer und Amateure starten hier gemeinsam. Das macht den Sport für Nicole Krüttgen aus Aachen zu etwas sehr Besonderem. "Das ist eine tolle Gemeinschaft und ein bisschen wie eine große Familie." Nicole hat bereits die 50 Meter Brust hinter sich und tritt am letzten Wettkampftag noch über 100 Meter an. "Hinterher gibt es immer eine riesige Portion Glückgefühle. Und ich bin so fit und gesund wie nie zuvor", sagt die Rheinländerin. Dann geht sie für ein kleines Training in den kalten See. "Herrlich hier, oder?" Die eingemummelten Zuschauer nicken zustimmend, während Nicole im Badeanzug rund zehn Minuten schwimmt, als wäre es Hochsommer.
Hände und Füße taub
Neben der körperlichen Vorbereitung spielt der Kopf beim Eisschwimmen auch eine entscheidende Rolle. Das richtige, positive Mindset ist wichtig. Für Deniz aus der Schweiz ist das Eisschwimmen eine Art Lehrer: "Ich trainiere Resilienz, lerne die Komfortzone zu verlassen, und da passiert Magie." Vor ein paar Jahren hat Deniz allerdings eine unschöne Erfahrung gemacht. Sie war zu lange im kalten Wasser, verlor das Bewusstsein und wachte erst im Krankenhaus wieder auf. Diagnose Hypertermie. Auf Deutsch Unterkühlung. Wenn die Körperkerntemperatur unter 35 Grad sinkt. Deniz erinnert sich, als wäre das das Normalste der Welt: "Erst werden die Hände und Füße taub, dann hat man ein Gefühl von Kontrollverlust und irgendwann driftet der Kopf ab."
Damit solche Fälle die Ausnahme bleiben, sind zahlreiche Ärzte und Sanitäter vor Ort. Sie schauen sich alle Starter über die längeren Distanzen vorher persönlich an. Über die 1.000 Meter sind die Schwimmer teilweise rund 20 Minuten im Wasser. Beim Rauskommen aus dem Pool und dem Anziehen helfen persönliche Betreuer. Die eigenen Fingerspitzen müssen erstmal wieder auftauen. Das geht am besten in einem warmen Whirlpool oder einer schönen milden Sauna im Hotel nebenan.
Riesige Eishaufen
Wenn abends alle Läufe geschwommen sind und die Kälte der Nacht Herr über den Pool wird, friert das Wasser rund um die Bojenleinen ruckzuck wieder zu. So schlagen hier jeden Morgen zahlreiche Helfer erst das neue Eis aus dem Pool und schmeißen die dicken Brocken auf einen riesigen Eishaufen auf der Wiese nebenan, ein beliebtes Fotomotiv bei allen hier. Es knarzt und knistert und bringt alle zum Lächeln, während aus den Lautsprechen schon die nächste Ansage ertönt. "Auf die Plätze, fertig, brrrrrrrr!"