Boxen | DM in Halle Meistertitel nach Magersucht: Leonie Müller boxt sich durchs Leben
Boxerin Leonie Müller aus Esslingen ist neue deutsche Meisterin im Halbmittelgewicht. Hinter ihr liegen viele Kämpfe - im Ring und mit ihrem Körper. Die Freundin von Kugelstoß-Olympiasiegerin Yemisi Ogunleye war früher magersüchtig.
"Neue deutsche Meisterin im Halbmittelgewicht: aus der blauen Ecke Leonie Müller." Der Ringrichter hebt die rechte Hand der strahlenden Siegerin im blauen Sportdress in die Höhe. Leonie Müller hat es wieder geschafft. Ihr mittlerweile dritter deutscher Meistertitel bei den Frauen. Die 25-jährige Boxerin aus Esslingen besiegte am Samstag (23.11.) im Finalkampf der DM in Halle/Saale die Ukrainerin Tatiana Petrovych klar mit 5:0 Punkten. Außerdem wurde sie zur besten Athletin dieser Titelkämpfe gekürt.
"Dieser Titel ist sehr besonders", sagt sie nach dem Titelgewinn im Gespräch mit SWR Sport. Im Sommer hatte sie die erhoffte Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris verpasst. Eine große Enttäuschung für die Schwäbin. "Ich hatte in den vergangenen Jahren auf Paris hingearbeitet. Dann war das Ziel von jetzt auf nachher weg - und ich musste mich erst mal wieder finden." Zweifel kamen hoch, ob sie ihre Boxsport-Karriere überhaupt fortsetzen wollte.
Der Titel von Halle war für sie nun ein deutliches Signal: Es geht doch. Ich kann es noch. "Es war gut, das Jahr mit diesem Erfolg abzuschließen und nicht mit dem Frust der Nicht-Qualifikation für Paris. Dieser Titel ist wichtig für mein Selbstvertrauen." Sie möchte weiterboxen. Im kommenden Jahr will sie sich verstärkt international messen. Ihr Ziel sind die Weltmeisterschaften im September 2025 in Liverpool.
Leonie Müller: "Nur so zum Spaß mache ich nichts"
Müllers Weg zum Boxsport war ungewöhnlich. Mit zehn Jahren entdeckte sie das Musikvideo "Most Girls" von Popstar Pink. Darin macht die Sängerin einarmige Liegestützen und trainiert als Kickboxerin. Leonie war begeistert. "Das will ich auch machen", sagte sie zu ihrer Mutter. Also ging sie in ihrer Heimatstadt Esslingen zum Boxtraining - und gewann auf Anhieb alle ihre Kämpfe.
Mit 13 wurde sie erstmals deutsche Jugendmeisterin. "Ich wollte immer etwas erreichen, nur so zum Spaß mache ich nichts", sagt die ehrgeizige ehemalige Waldorfschülerin. Sie liebt ihre Sportart. "Für mich hat Boxen viel mit Koordination, Ausdauer, Athletik, technischen Feinheiten und mentaler Stärke zu tun."
Wenn du im Kopf nicht klar bist und nur drauflos prügelst, verlierst du dich und den Kampf. Leonie Müller, Deutsche Meisterin Boxen
Sie verteidigt das Frauenboxen selbstbewusst. "Ich möchte zeigen, dass Frauen gut boxen können und stark sind.“ Das bekommen ihre Team-Kollegen, die mit ihr am Olympiastützpunkt in Heidelberg, wo sie die meiste Zeit trainiert, zu spüren. Beim Sparring steigt Müller vorwiegend mit Männern in den Ring. "In Deutschland habe ich in meiner Gewichtsklasse nur wenige Gegnerinnen. Durch das Training mit den körperlich stärkeren Männern werde ich schneller und meine Reaktionen werden besser."
Ein gutes Reaktionsvermögen ist wichtig. Im Boxsport kann es schnell gehen. Schon kleine Unaufmerksamkeiten können zu schweren Verletzungen führen. "Ich habe mal einen Schlag bekommen", erzählt sie, "da war kurz das Licht aus bei mir. Ich sah nur noch Sterne." In einem anderen Fall wurde eine Nervenbahn an ihrer Wange durchtrennt. Die Gesichtshälfte war taub, wie bei einem Schlaganfall. Es dauerte Monate, bis sie wieder richtig trainieren konnte. "Jede, die in den Ring steigt, weiß, dass Boxen gefährlich ist", sagt sie.
Leonie Müllers Kampf gegen die Magersucht
Im Boxsport gibt es verschiedene Klassen mit Gewichts-Obergrenzen. Schon als Kind musste Leonie streng auf ihr Gewicht achten, sie ging täglich auf die Waage. "Mein Kopf drehte sich die ganze Zeit ums Gewicht", erinnert sie sich in einem Beitrag für das Magazin "Grandios". In der Pubertät entwickelte sie sich zur Frau, ihr Körper veränderte sich. "Damit konnte ich nicht umgehen." Sie aß immer weniger und wurde immer dünner. Trotzdem dachte sie beim Blick in den Spiegel: Ich bin zu dick. Mit 15 Jahren rutschte sie in die Magersucht.
Ihr dürrer Körper bildete Wollhaar, damit sie nicht so stark fror. Sie bekam brüchige Fingernägel, ihre Gedanken kreisten pausenlos ums Essen. Obwohl sie immer kraftloser wurde, blieb ihr Ehrgeiz ungebremst. "Die Magersucht motivierte mich fürs Training, weil ich noch dünner werden wollte."
Trotz ihrer gefährlichen Essstörung gewann sie erneut den deutschen Meistertitel. Doch ihr körperlicher und mentaler Zustand verschlechterte sich rapide. "Irgendwann ging es gar nicht mehr darum, dünner zu werden. Ich dachte: Wenn ich überhaupt nichts mehr esse, dann verschwinde ich eben irgendwann. Ich hatte keine Perspektive, da rauszukommen."
Leonie Müller: "Ich saß in der Dunkelheit"
2017 kippte die damals 17-Jährige nach ihrem Finalkampf bei den deutschen Meisterschaften um. "Ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich war depressiv und saß in der Dunkelheit." Ihre Mutter griff ein. Sie brachte Leonie dazu, sich bei einer Therapeutin Hilfe zu holen. Die Mutter, eine Freundin und ihr Athletiktrainer unterstützten sie dabei, ihr Körperbild zu korrigieren. Der Heilungsprozess brauchte Zeit. Ganz allmählich kehrte die Lebensfreude wieder zurück. Heute ist Müller von der Magersucht geheilt. Die 1,79 Meter große Athletin startet im Halbmittelgewicht bis 70 Kilo.
Ihre Essstörung hatte sie überwunden, doch Anfang 2022 folgen weitere Probleme. Innerhalb weniger Monate kugelte sie sich mehrmals ihre Schulter aus. "Ich habe sie mir immer wieder selbst reingeschubst", sagt sie. "Manchmal während des Kampfes. Ich war so voller Adrenalin, dass ich den Schmerz nicht gespürt habe." Sie musste operiert werden - und fiel erneut in ein mentales Loch. "Das war eine ganz dunkle Zeit", erinnert sie. "Das Boxen, das alles für mich war, war plötzlich weg."
Freundschaft mit Olympiasiegerin Yemisi Ogunleye
Müller ging während der Verletzungspause in eine Kirche. "Es war gut, dass ich mal nichts tun konnte. In dieser Zeit hat Gott an meiner Seele gearbeitet." Nach einer fünfmonatigen Pause war ihre Schulter wieder heil. "Ich dachte, es wird die schlimmste Zeit meines Lebens. Aber es war die beste," erzählt sie heute strahlend. "Ich bin stärker denn je in den Ring zurückkehrt." Seit dieser Zeit betet sie vor ihren Kämpfen. Auf ihre Unterarme hat sie die Worte "Jesus" und "Christ" tätowieren lassen.
Über die Kirchengemeinde lernte sie Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye (MTG Mannheim) kennen, die wie Müller in der Rhein-Neckar-Region trainiert. Für beide Athletinnen ist der christliche Glaube eine Kraftquelle, gemeinsam besuchen sie regelmäßig Gottesdienste einer Gospelchurch in Karlsruhe. Nach den Olympischen Spielen von Paris, wo Ogunleye überraschend die Goldmedaille gewann, verbrachten die Freundinnen ("Wir bauen uns immer gegenseitig auf") unbeschwerte Urlaubstage auf Mallorca. Der Druck der vergangenen Wochen und Monate purzelte von ihren Seelen.
Social-Media-Beitrag auf Instagram: Müller und Ogunleye singen Gospelsong
Müller, die aktuell für die TG 75 Darmstadt boxt, blickt gelassen in die Zukunft. Bis zu den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles ist es noch weit. "Ich möchte nicht im olympischen Vierjahres-Zyklus denken", sagt sie. "Innerhalb eines Jahres kann so viel passieren." Gelassen und voller Gottvertrauen will sie ihre nächsten Schritte gehen.
Sendung am Sa., 23.11.2024 19:30 Uhr, SWR Aktuell Baden-Württemberg, SWR BW