Turn-Trainerin Aimee Boorman.

Ex-Trainerin von Turnstar Simone Biles am Stützpunkt Stuttgart Die Menschenfreundin: Mit Aimee Boorman soll ein neuer Geist einziehen

Stand: 19.03.2025 15:12 Uhr

Aimee Boorman formte Simone Biles zum Turn-Weltstar. Jetzt soll die US-Amerikanerin die Stuttgarter Trainingsgruppe um Helen Kevric auf die Heim-EM in Leipzig vorbereiten - und für eine andere Atmosphäre am Stützpunkt sorgen.

Seit Anfang März ist Aimee Boorman in Stuttgart. Sie wurde vom Deutschen Turner-Bund (DTB) und vom Schwäbischen Turnerbund (STB) am Kunst-Turn-Forum als Trainerin berufen – zunächst als Honorarkraft für fünf Monate. Die 51-Jährige soll die Trainingsgruppe um Olympia-Teilnehmerin Helen Kevric und Marlene Gotthardt auf die Heim-EM in Leipzig (Ende Mai) und auf das Europäische Olympische Jugendfestival (EYOF) in Kroatien vorbereiten. Nach den Missbrauchsvorwürfen am Bundesstützpünkt und nach der Freistellung von zwei Trainern will sie die entstandene Personallücke schließen.

Aimee Boormann - die neue Trainerin in Stuttgart

"Ich weiß nichts darüber, was hier passiert ist. Ich bin hier, um diese jungen Frauen als Coach vorzubereiten", sagte die langjährige Trainerin von US-Superstar Simone Biles bei ihrer Vorstellung am Mittwoch, "meine Rolle ist, einfach ich selbst zu sein. Ich will diesen Turnerinnen helfen, in der Wettkampfsaison bereit zu sein", so die US-Amerikanerin weiter.

Aimee Boorman formt Simone Biles zur weltbesten Turnerin

Wer die Trainingsphilosophie und das Mindset von Aimee Boorman verstehen will, sollte sich die langjährige Zusammenarbeit zwischen ihr und Simone Biles, der weltbesten Turnerin, dekoriert mit sieben olympischen Goldmedaillen und 23 WM-Titeln, genauer ansehen. In zwölf Jahren entwickelten sich Boorman und Biles zu einer engen menschlichen und sportlich erfolgreichen Gemeinschaft.  

Am 12. August 2016 strahlten TV-Bilder von den Olympischen Spielen in Rio diese Herzens-Verbundenheit in die Welt hinaus. US-Turnstar Simone Biles und ihre Trainerin Aimee Boorman lagen sich in den Armen. Beide wischten sich Freudentränen aus den Augen. Soeben hatte das 1,43 Meter-Kraftpaket Biles im Mehrkampf ihre zweite olympische Goldmedaille gewonnen. Insgesamt holte die 19-Jährige viermal Gold und einmal Bronze in Rio.

Die Besonderheit der Beziehung verdeutlichte ein Post der Turnerin nach dem Gewinn der Goldmedaille. Unter ein Foto von sich und Boorman schrieb der Turnstar: "Ich bin nicht alleine hierher gekommen. Danke an die weltbeste Trainerin ❤️ ICH LIEBE DICH"

Social-Media-Beitrag auf Instagram: Simone Biles' Liebeserklärung an Aimee Boorman

Boorman will Spaß am Turnen vermitteln

Zwölf Jahre zuvor hatte Boorman die siebenjährige Simone unter ihre Fittiche genommen. "Sie fiel auf, weil sie sehr klein, aber sehr muskulös war", erinnerte sich die Trainerin später. Es ging ihr vor allem darum, dass das Mädchen Spaß am Turnen hatte. Sie wollte dieses große Talent nicht durch übergroße Erwartungen verheizen. Die Motivation für die Trainingsarbeit eines Coachs, sagte Boorman 2023 in einem Podcast, "sollte nicht die Teilnahme an den Olympischen Spielen sein. Es sollte die Liebe sein, junge Athleten zu fördern, damit sie wachsen und zu den Menschen werden, die sie sein wollen. All die Fähigkeiten, die sie im Turnen erlernen, machen sie langfristig zu besseren Menschen – wenn man sie richtig behandelt."

Boorman umarmt Simone Biles bei Olympia in Rio

Simone Biles und US-Trainerin Aimee Boorman bei Olympia 2016 in Rio

Boorman, in Chicago geboren, bildete Biles behutsam aus. Das Verhältnis zwischen Trainerin und Turnerin, sagt Boorman, sei generell ein spezielles. Turnerinnen verließen sich auf ihre Trainer und dächten: "Ich muss dir vertrauen, dass du dafür sorgst, dass ich nicht auf dem Kopf lande und mich umbringe, gelähmt werde oder mir einen Knochen breche. Dieses Vertrauen braucht Jahre, um sich aufzubauen."

Das Gnadenlose geht Aimee Boorman völlig ab

Boorman baute dieses Vertrauensverhältnis zu Simone Biles behutsam auf. Sie sorgte dafür, dass sie sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln konnten. Biles spätere Erfolge gaben und geben Boormans modernem Trainingsstil Recht. Dabei musste sie gegen viele Widerstände ankämpfen. Jahrelang hatte man ihr vorgeworfen, viel zu nett zu sein, um erfolgreich sein zu können. "Was für ein schreckliches Konzept", sagt Boorman. Doch sie ließ sich nicht beirren, sie wollte auf keinen Fall eine Verfechterin der "alten Schule", bestehend aus Disziplin, unbedingtem Gehorsam und harscher Hierarchie, sein. Doch diese war in den USA lange Zeit tonangebend. "Wir folgten dieser Ostblock-Mentalität, aus Turnerinnen kleine Robotersoldaten zu machen. Das war aber nicht das, was ich wollte." Das Gnadenlose geht Boorman völlig ab.

Natürlich weiß sie, dass es im Leistungssport um Höchstleistung geht. Sie findet es auch wichtig, dass Trainerinnen ihre Athleten fordern. "Aber ich finde nicht, dass Athleten bis an ihre Grenzen getrieben werden sollten", sagt sie. Was für die eine Sportlerin eine Herausforderung sei, sei für die andere bereits eine Belastungsgrenze. Umso wichtiger ist es ihr, bei ihren Schützlingen genau hinzuschauen. Das Wichtigste sei die Körpersprache.

Wenn man mit Kindern arbeitet, sagen sie einem normalerweise nicht, wie sie sich fühlen. Aber man sieht es an ihrem Körper. Aimee Boorman, Trainerin

Boorman ist selbst Mutter von drei Jungs. "Ich sehe, wenn eines meiner Kinder kurz davor ist abzuschalten. Dann muss ich mich neu orientieren und überlegen, wie ich mit der Situation umgehe. Als Trainer muss man wie ein Kind denken, aber wie ein Erwachsener planen." Sie sei keine ausgebildete Kinderpsychologin, betont sie, aber sie verfüge über viel Erfahrung, habe viel studiert und mit Fachleuten gesprochen. Eine fundierte Ausbildung und Menschenkenntnis sind wichtig für Trainer. Freundlichkeit im Umgang mit ihren Mitmenschen ist das Normalste auf der Welt für Boorman. Dazu gehöre auch, sich zu entschuldigen, wenn es angezeigt ist – auch oder gerade bei jungen Turnerinnen.

Aimee Boorman: "Warum muss man gemein sein, um etwas zu erreichen?"

"Wenn ich ein Kind ansah und merkte, dass ich es mit meinen Worten verletzt hatte, entschuldigte ich mich, und das tue ich immer noch. Ich entschuldige mich bei meinen Kindern, wenn ich sie anblaffe, weil ich meine Botschaft nicht rüberbringe." Viele Erwachsene seien zu stolz, um zu sagen: "Ich sehe, ich habe deine Gefühle verletzt." Boorman will ihren Weg des menschenfreundlichen Umgangs auch im Leistungssport niemals verlassen. "Warum muss man gemein sein, um etwas zu erreichen? Ich habe dafür gesorgt, dass ich meine Freundlichkeit beibehalten konnte."

Vielleicht liegt der Grund für diese Haltung in Boormans eigener Kindheit und in ihren eigenen Erfahrungen als junge Turnerin. "Wenn ich zurückblicke, sehe ich, dass sie (die Trainer, d.R.) grausam zu mir waren. Ich möchte als Trainerin niemals einem Kind dieses Gefühl geben, das ich selbst damals als Kind hatte." Ihre Mutter war alleinerziehend, Turnen war ein teurer Sport in den USA. Also begann sie als als Jugendliche zu arbeiten, um ihre Gebühren bezahlen zu können. Schon mit 13 jobbte Boorman als Coach in einem Fitnessstudio. Mit Ende 20 nahm sie Simone Biles unter ihre Fittiche.

Aimee Boorman war wie eine Mutter für Simone Biles

Boorman war wie eine Mutter für das Mädchen. Sie wusste von der schweren Kindheit ihres Schützlings. Biles war erst drei, als sie und ihre drei Geschwister ihrer Mutter weggenommen wurden, weil diese alkohol- und drogenkrank war. Das Kind wurde daraufhin von ihren in Texas lebenden Großeltern adoptiert, später bezeichnete Biles diese als ihre Eltern. Boorman half der jungen Athletin mit einem strengen Trainingsplan ("30 Stunden pro Woche zusammen"), positiver Unterstützung in schwierigen Zeiten und viel Liebe, sie zur wohl größten Turnerin aller Zeiten zu formen. "Ich gehöre praktisch zur Familie", sage Boorman einmal über ihre vielen Einladungen zu den Geburtstagsfeiern der Familie Biles.

Das Thema Ernährung, das im Turnen eine große Rolle spielt, war beim Team Biles/Boorman kein besonders wichtiger Faktor. Sie habe in den zwölf Jahren, die sie Biles trainiert habe, nie auf deren Ernährung achten müssen, sagte Boorman 2019 in einem Interview. "Sie weiß selbst, was ihrem Körper guttut. Eine bestimmte Diät macht sie nicht. Und sie liebt Zimtschnecken und Pizza."

Wie eine Mutter: Trainerin Aimee Boorman und Simone Biles

Wie eine Mutter: Trainerin Aimee Boorman und Simone Biles

Biles konnte immer auf die Rückendeckung ihrer Trainerin bauen. Das ging sogar so weit, dass Boorman ihre Turnerin unterstützte, als diese sich weigerte, ins Trainingslager der US-Nationalmannschaft unter Trainerlegende Marta Karolyi ("Sie gehörte einer älteren Generation aus dem Ostblock an") zu gehen. Diese Weigerung galt damals als Majestätsbeleidigung. "Ich habe Simone unterstützt und ihr gesagt, dass es okay ist. Wir wurden nicht wieder ins Trainingslager eingeladen. Aber wir haben bewiesen, dass man dies ablehnen und trotzdem den nationalen Titel gewinnen kann." Denn genau das tat Simone Biles.

Aufgrund dieses außergewöhnlichen Commitments zwischen Biles und Boorman sagte die zweifache Sprungweltmeisterin McKayla Maroney 2016 in einem Podcast:

Ich weiß, dass Simones Trainerin Aimee sie lächeln lässt, worum ich sie total beneide. Turn-Weltmeisterin McKayla Maroney (2016)

Boorman ist der Überzeugung, dass gute Trainer immer ihre Athletinnen und Athleten in die Prozesse mit einbeziehen. "Große Trainer stellen sicher, dass ihre Athleten mitreden können", sagt sie. Sogar mit der möglichen Konsequenz, dass eine Turnerin den eingeschlagenen Weg nicht bis zum Ende gehen möchte. Sie sagte zu Biles: "Du kannst jederzeit mit dem Sprung aufhören. Wenn du diesen Weg nicht gehen willst, müssen wir es nicht. Du kannst weiter großartig sein und eine fantastische College-Karriere hinlegen und tun und lassen, was du willst. Du musst kein Spitzenturnerin sein."

Nach den Olympischen Spielen von Rio trennten sich die Wege von Biles und Boorman. Während Biles ein Sabbatjahr machte, zog Boorman von Spring/Texas (hier hatte sie die Weltklasse-Turnerin im World Champions Centre der Eltern von Biles gecoacht) nach Florida. Dort wurde sie Geschäftsführerin und Elitekoordinatorin in einem Turn-Leistungszentrum in Sarasota. Es war ein Abschied zweier Menschen, die immer verbunden bleiben werden: Boorman: "Wir stehen uns beide nahe, und das wird auch immer so bleiben."

Später war Boorman zwischenzeitlich Assistenztrainerin des niederländischen Turnteams weiblich. Sie betreute das Team rund um die Olympischen Spiele 2021 in Tokio. Aus dieser Zeit rührt auch der Kontakt zum Niederländer Gerben Wiersma, dem aktuellen Bundestrainer der Frauen. Er soll Boorman für die Tätigkeit in Stuttgart vorgeschlagen haben.

Auf die Frage danach, was sie ihren Turnerinnen mitgeben wolle, sagte Boorman: "Das Schönste ist für mich, wenn Athletinnen, die ich jahrelang als Kinder trainiert habe, so positive Erfahrungen im Turnen gemacht haben, dass sie ihren eigenen Kindern dasselbe ermöglichen möchten. Turnen hat sie zu den Menschen gemacht, die sie sind - und sie mögen sich so, wie sie sind. Das ist für mich das schönste Vermächtnis."

Diesen Spirit Aimee Boormans wünschen sich viele auch für das Turnen in Deutschland.

Sendung am Mi., 19.3.2025 18:40 Uhr, SWR1 Baden-Württemberg