Bier-Becher hängt am Zaun neben einer Fahne von Union Berlin (Quelle: IMAGO / Nordphoto)

Selbsthilfegruppe Suchtkranker Union-Fan über Alkohol im Stadion: "Es gab bis 1994 kein Union-Spiel, bei dem ich nicht besoffen war"

Stand: 14.01.2025 06:16 Uhr

Zur Gruppe "Nüchtern betrachtet, mehr vom Spiel" haben sich Union-Fans zusammengeschlossen, die auf alkoholische Getränke verzichten. Gerade im Stadion keine leichte Sache, wo das Motto gilt: Fußball und Bier gehören zusammen. Von Gunnar Leue

rbb|24: Viele Menschen, auch Fußballfans, begehen mittlerweile einen Dry January. Sie gehören einer Gruppe von Unionern an, die permanent auf Alkohol verzichtet. Warum tun Sie das?
 
Steffen P. (Union-Fan und Sprecher der Selbsthilfegruppe): Weil ich's will. Ich bin trockener Alkoholiker seit 1994, und möchte das auch möglichst bis zu meinem Tod bleiben. Ich gehe seit 1979 zu Union und es gab bis 1994 kein Union-Spiel, bei dem ich nicht besoffen war. Zu Ostzeiten gab es, glaube ich, im Stadion noch keine Bierbuden. Man hat Schnapsflaschen ins Stadion mit reingeschmuggelt, Kontrollen wie heute gab es damals nicht. Vor allem vor und nach den Spielen wurde viel getrunken, oft harte Sachen.

Wie würden Sie Ihre Stadionerlebnisse aus der Zeit beschreiben?
 
Ich war in fast jedem Erst- und Zweitligastadion der DDR, aber frag nicht, woran ich mich da genau erinnere. Ich habe die Wochenenden im Rausch verbracht. Alk und Fußball, das gehörte einfach zusammen. Bis mir meine Hausärztin irgendwann sagte: "So Steffen, jetzt machst du einen Entzug." Da war ich 29 Jahre alt. Ich habe dann aufgehört zu trinken. Man muss das natürlich wollen und möglichst ein stabiles soziales Umfeld haben, ansonsten verfällt man als Suchtkranker schnell in alte Muster. Ich hatte zum Glück eine Familie, die mich auch ohne Therapie sehr unterstützt hat. Heute ist das nüchtern bleiben beim Fußball für mich kein Problem mehr. Jetzt im Winter trinke ich im Stadion Tee und kann auch 90 Minuten ohne was zu trinken auskommen.

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Dabei heißt es immer, Bier und Bratwurst gehörten unbedingt zum Fußball.
 
Das sehe ich genauso. Es wird ja niemand gezwungen, Bier im Stadion zu trinken. Das Credo unserer Gruppe lautet: Wir wollen nicht agitieren und fordern kein Alkoholverbot im Stadion. Jeder muss selbst mit sich vereinbaren, was er tut und lässt. Aber jeder Unioner soll wissen, dass es unsere Gruppe gibt und dass wir da sind, wenn jemand Probleme mit Alkohol hat.

Seit wann existiert die "Nüchtern betrachtet, mehr vom Spiel"-Gruppe?
 
Wir gehen jetzt in das sechste Jahr. Gegründet wurde die Gruppe im September 2019 von Margitta, einer Sozialpädagogin/Suchttherapeutin, die zu der Zeit in Rente ging und dann diese Initiative ins Leben rief. Sie hatte über die Union-Webseite einen Aufruf für Interessierte gestartet, den ich las. Danach war ich Feuer und Flamme. Inklusive Margitta waren wir fünf Leute, die sich im September 2019 das erste Mal vor einem Union-Spiel am Denkmal vorm Stadion trafen.

Kurz darauf brach die Pandemie aus. Wie hat die Gruppe sie überstanden?
 
In der Pandemie haben wir nur über WhatsApp Kontakt gehalten, im Lockdown konnten wir uns ja nicht mehr sehen. Es war der größte Erfolg für uns, als Gruppe zusammengeblieben zu sein. Jetzt sind wir 43 Mitglieder, darunter fünf Frauen. Nicht alle sind regelmäßig dabei, aber bis zu 20 Leute kommen jeden Dienstag zu unseren Treffen. Die Altersspanne reicht von Anfang 30- bis über 60-Jährigen.

Wir sind offen für jeden, der suchtkrank ist - man muss nicht Unioner sein.

Warum hat Sie die Idee einer Gruppe von Fußballfans mit dem gleichen Alkoholproblem sofort angesprochen?
 
Die Verbindung von Selbsthilfegruppe und Fußball. Vorher hatte ich keine Selbsthilfegruppe gefunden, die mir gefiel. Nach meinem Entzug, ohne Therapie, war ich bei den Anonymen Alkoholikern. Mich störte, wie sehr die sich alle bemitleideten, ich dachte: 'Ne, das brauche ich nicht, das schaffst du auch alleine.' Es hat dann halt 25 Jahre gedauert, bis ich die richtige Selbsthilfegruppe gefunden habe. Was gibt‘s Schöneres, als ein Fantreffen seines Lieblingsvereins und eine Selbsthilfegruppe in einem zu haben, und das wöchentlich.

Welche Themen bestimmen die Treffen?
 
Wir reden über Union und natürlich über unsere Sucht und Probleme, die man gerade hat. Darüber reden ist wichtig und hilft. Wir können nicht therapieren, nur Tipps geben und einen gewissen Halt, damit man nicht rückfällig wird. Darauf liegt unser größtes Augenmerk. Wir haben eine Art Notknopf bei Problemen. Man stellt dann ein bestimmtes Foto auf WhatsApp ein, der schon vielen geholfen hat, nicht rückfällig zu werden. Der Triggereffekt dauert ja nur kurz, 5 oder 10 Minuten. Dann hilft Ablenkung und mit jemandem reden, der selbst Glaubwürdigkeit besitzt. So wie wir, denn wir haben ja alle eine Suchtkarriere. Trotzdem haben wir erlebt, dass Leute rückfällig wurden. Aber sie kommen meist wieder, weil sie bei uns keine Moralpredigten fürchten müssen. Unsere einzige Vorschrift lautet, nüchtern zu unseren Gruppentreffen zu erscheinen.

Muss man Unionfan sein in der Gruppe?
 
Wir sind offen für jeden, der suchtkrank ist - man muss nicht Unioner sein. Wir hatten HSV- und Freiburg-Fans aus Berlin bei uns. Aber wir haben erlebt, dass die Nichtunioner irgendwann weggeblieben sind. Vermutlich, weil zu viel über Union gequatscht wurde. Der Verein ist bei uns eben immer Thema. Dazu gehört eine regelmäßige Spieltagauswertung. Auch weil immer welche bei Auswärtsspielen dabei sind.

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Sie auch?
 
Nicht mehr regelmäßig. Andere fahren regelmäßig. Wir wollen ja auch, dass unsere Leute wieder ins Stadion gehen, dort auch eine Bierdusche ertragen und mit dem ganzen alkoholischen Drumherum umgehen können. Wir haben kaum soziale Härtefälle in unserer Gruppe, alle sind in Lohn und Brot.

Unternimmt die Gruppe gemeinsame Exkursionen?
 
Wir machen jährlich eine "Klassenfahrt": 15 Leute, drei Tage, mit Autos, zuletzt immer zum Stechlinsee. Dort bereden wir auch, was wir als Gruppe erreichen wollen. Unsere Klassenfahrt wird von der Union-Stiftung "Schulter an Schulter" unterstützt. Wir unterstützen Schulfeste in der AG Soziales, beteiligen uns an den Aktionen zur Wuhlesäuberung und natürlich an den Drachenbootrennen. Kinobesuche, Floßfahrten oder Tierparkbesuch gehören ebenfalls zu unserem Programm.

Wie ist der Kontakt zum Verein?
 
Wir hatten 2023 ein zweistündiges Treffen mit Präsident Zingler, um uns vorzustellen. Man kann sagen, wir werden von allen Seiten komplett unterstützt. Dirk Zingler hat versprochen, unsere Belange aufzunehmen und das eingehalten. Wir kamen mit der Prokuristin der Stadion AG in Kontakt und haben vereinbart, dass wir jetzt keinen Schnellschuss machen und improvisieren, sondern Stände für alkoholfreies Bier im neuen Stadion eingeplant werden. Uns geht es auch nicht um das Stellen von Forderungen, wir geben Empfehlungen, was wir gut fänden. Am schönsten finden wir, dass das Bewusstsein für die Thematik überhaupt gestiegen ist. So hatten wir Dirk Zingler gefragt, warum bei der Aufstiegsparty Freibier ausgeschenkt wurde und nicht ein Freigetränk. Kinder mussten für eine Cola oder Fans für ein Gespritztes voll bezahlen. Da hat der Präsi komisch geguckt und nachgedacht. Das hat ihm den Horizont erweitert, das fanden wir cool.

Wie ist das Angebot an alkoholfreien Getränken heute an normalen Spieltagen im Stadion?
 
Es gibt an allen Getränkeständen die üblichen Softdrinks sowie Kaffee und Tee und an drei Bierwagen alkoholfreies Bier. Das haben nicht wir initiiert, aber wir haben es geschafft, dass das Schild nicht irgendwo verborgen hängt, sondern gut sichtbar ist. Meine Tochter macht ab und zu mal die Runde und fragt, wie der Absatz des Alkoholfreien so läuft.

Und?
 
Die Nachfrage steigt ständig.

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Haben Sie Kontakte zu ähnlichen Gruppen bei anderen Fußballvereinen?
 
Ja, zu den "Weiß-braunen Kaffeetrinkern" beim FC St. Pauli. Die hatten 2023 ihr 25-jähriges Bestehen und waren die einzige Selbsthilfegruppe bei einem Profiverein vor uns. Jetzt ist sie ein Fanklub mit integrierter Selbsthilfegruppe, sie treffen sich einmal im Monat. Die sind sehr sichtbar in ihrem Stadion, haben nach langen Kämpfen auch einen Stand für nur alkoholfreie Getränke organisiert. Unser Kontakt zu ihnen ist sehr freundschaftlich.

Union spielt bald auf St. Pauli, sind Sie dabei?
 
Eigentlich wollten wir mit der Gruppe hin, aber die Ansetzung auf Sonntag 17:30 Uhr ist einfach blöd. Ich fahre auf alle Fälle hin mit meiner Frau, egal ob wir Eintrittskarten bekommen oder nicht. Zum ersten Mal trafen wir uns mit den "Weiß-braunen Kaffeetrinkern" im März 2022 zum DFB-Pokalspiel an der Alten Försterei.
 
Als der FC St. Pauli in der letzten Saison ein Auswärtsspiel bei Hertha hatte, hatten wir die "Kaffeetrinker" zu einer Stadionführung in der Alten Försterei eingeladen. Anschließend haben wir mit ihnen im Olympiastadion in ihrem Block das Spiel gesehen und am Sonntag haben wir uns in einem Köpenicker Café zum Frühstück getroffen. Auch zum ersten Bundesligaspiel in dieser Saison haben wir uns natürlich vorm Spiel und am nächsten Tag zum Frühstück getroffen. Das hat großen Spaß gemacht. Vielleicht wird es ja auch künftig Kontakte zu anderen Vereinsgruppen geben, denn auf Schalke gibt es jetzt eine "Null Bier"-Fraktion, schöner Name.

Das Thema zieht Kreise?
 
Anfang 2024 gab es eine von der DFL und dem DFB organisierten Fachtag Antidiskriminierung und Vielfalt in Frankfurt am Main. Da waren auch Fanprojekte und Initiativen aus den Bereichen Inklusion und Vielfalt eingeladen und zwei Leute von uns dabei. Im September trafen wir uns an der Alten Försterei mit dem Suchtbeauftragten der Bundesregierung, Herrn Blienert, und unserem Präsidenten zu einem Gespräch über unsere Gruppe und die Zusammenarbeit zwischen Verein und uns. Im Dezember besuchte Herr Blienert auch eines unserer Gruppentreffen und war sehr begeistert über unsere Arbeit.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Gunnar Leue, rbb Sport.