Läuferinnen und Läufer bei Nacht | Bild: IMAGO/Dreamstime

Emotionen und Testschuhe Der Marketing-Hack hinter den boomenden Laufgruppen von Adidas, Nike und Co.

Stand: 12.03.2025 06:10 Uhr

Egal ob Anfänger oder Fortgeschrittene, für Gelegeheitsjogger oder Kilometerfresser – immer mehr Menschen suchen sich Gruppen zum Laufen. Sportartikel-Hersteller nutzen das für einen Marketing-Hack: Laufgruppen als sportliche Tupperpartys. Von Jakob Lobach

In einer langgezogenen Gruppe laufe ich einen engen Bürgersteig in Berlin-Mitte entlang. Vorbei an roten Restauranttischen und bunten Ladenaufstellern steuern wir schnurstracks auf den Hackeschen Markt zu. Zum ersten Mal in meinem insgesamt recht sportlichen Leben habe ich mich an diesem lauen Donnerstagabend einer organisierten Laufgruppe angeschlossen. Im Gegensatz zu vielen anderen Läuferinnen und Läufern in Berlin und Brandenburg, für die das Alltag ist.

Junge Frau macht Klimmzüge (Quelle: imago-images/xMilanxMarkovicx)
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Tausende Lauf- und Walking-Gruppen in Deutschland

Laufgruppen gehören in der Region wie im Rest des Landes zum sportlichen Bild - wie die Startnummer bei einem Rennen. Über 3.500 Lauf- und Walkingtreffs zählt etwa der Deutsche Leichtathletik Verband (DLV) – unzählige davon in Berlin. Dabei hat sich auch eine ganz bestimmte Art von Laufgruppen mit etabliert: solche, die von Laufartikel-Herstellern organisiert werden. Während Laufgruppen im Allgemeinen eine Abwechslung von sportlicher Einsamkeit bieten, sind sie auch eine innovative Art des Marketings.
 
Das gilt auch für meine Debüt-Laufgruppe: Der Schweizer Hersteller "On" hat zu ihr eingeladen und gut 50 Menschen sind gekommen. Dass der absolute Großteil von ihnen jetzt in mal schwarzen, mal bunten Schuhen des Herstellers über den Asphalt von Berlin-Mitte joggt, ist kein Zufall.
 
Auch ich gehöre zu diesem Großteil. Dabei habe ich mir eigentlich erst kürzlich ein Paar neue Schuhe gekauft. Ende letzten Jahres saß ich in einem Laufgeschäft in London. Meinem bedrohlich schnell näher rückenden ersten Halbmarathon und ausgelatschten alten Laufschuhen mit Knieschmerz-Potenzial sei Dank. Vor mir stand ein halbes Dutzend Paar bunter Schuhe verschiedener Marken. In mir herrschte vor allem Überforderung. Kurz darauf war ich knapp 200 Euro ärmer und ein paar Laufschuhe reicher.

Teilnehmer des Berlin Marathon 2024

Keine Laufgruppe im klassischen Sinne: Läufer beim Berlin Marathon 2024 | Bild: IMAGO/camera4+

Wer im Weg steht, muss Platz machen

Doch an diesem Donnerstagabend liegen diese Schuhe in einem Lagerraum des Ladens von "On". Es ist Teil des Konzepts, dass man in der Laufgruppe auch Schuhe testet. "Welches Model willst du ausprobieren?", fragte mich eine Mitarbeiterin beim Ankommen im Laden. Kurz darauf hatte ich das neueste Modell in Größe 44 in der Hand. Statt einem bewerbenden Beratungsgespräch folgten wenig später ein gemeinsames Aufwärmprogramm mit schneller Musik und viel einander ermutigendem Klatschen. Dann konnte es losgehen.
 
Fünf Minuten später sind wir nur noch gute hundert Meter vom Hackeschen Markt entfernt. Wer sonst noch auf dem Bürgersteig unterwegs ist, muss Platz machen und warten. Einzige Ausnahme: ein Mann in schickem Mantel, der nicht warten kann. Mit einem Rollkoffer unter dem Arm joggt er kurz neben mir her und kämpft sich dann durch meine Mitlaufenden auf ein wartendes Taxi zu. Mir fallen seine Anzugschuhe auf und ich denke zum ersten Mal an 'meine' Testschuhe. "Sehr angenehm", denke ich mir, "etwas fester als meine eigenen, aber eigentlich ganz nice."

Es gibt in jeder Stadt Laufgruppen, die von kompetenten Leuten geleitet werden

Emotionen verbinden Menschen mit Marken

Fühlen, statt sich zu informieren. Ausprobieren, statt nur anprobieren. Es sind zwei große Unterschiede, die mit dafür sorgen, dass Laufgruppen für Hersteller von Laufartikeln sehr wertvoll sind. "Bei unseren Running Communities merken wir, dass die Leute Dinge erleben wollen", sagt Nina Ennen. Sie ist die Berliner PR-Managerin von Adidas, als solche auch für die Kommunikation rund um das große Laufprogramm der Marke zuständig. "Laufen ist superemotional, und Emotionen verbinden", sagt sie. Menschen untereinander, und Menschen mit Marken.
 
Sechs Gruppen laufen unter dem Titel 'Adidas Running' jede Woche durch Berlin – unterschiedlich schnell und weit, aber oft mit einem Store als Startpunkt. Auch ihre Mitglieder und Besucher können dabei verschiedene Adidas-Schuhe läuferisch testen. Begleitet werden sie von sogenannten Captains und Crew Runners, den Gesichtern des Laufprogramms. Insgesamt 20 von ihnen gibt es allein in Berlin – ein Indikator für die Bedeutung, die Marken wie Adidas ihren Lauf-Communities beimessen.

"Brand Communities" als Mehrwert

"Wir sind vor allem da, um mit den Läufern zu sprechen und ihre Fragen zu beantworten", erklärt Co-Captain Fariz Hakim und Lynn Maleen Sievers ergänzt: "Ich bin eine Art Community-Mama." Sievers ist eine der Captains. "Wir haben für jeden eine Gruppe und du musst kein Adidas tragen, um mitlaufen zu können", sagt sie, "aber gib' den Menschen drei Wochen und sie sind von oben bis unten in drei Streifen gekleidet."

Marathon-Teilnehmende laufen entlang der Berliner Siegessäule. (Foto: IMAGO / Andreas Gora)
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Das gilt besonders für diejenigen, die regelmäßig kommen, sich wirklich als Teil der "Community" begreifen. Rund 33.000 Mitglieder hat die Gruppe 'Runners Berlin' in der eigens aufgelegten Lauf-App von Adidas. Für manche ist es eine einmalige Gelegenheit in einer fremden Stadt in Gemeinschaft zu laufen, manche kommen immer mal wieder vorbei, wieder andere machen mehrere Läufe pro Woche mit.
 
Sie alle eint, dass ihnen mit Nachdruck und verschiedenen Mitteln vermittelt wird, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Besagte App zum Tracken der Läufe, Events in vielen Städten, T-Shirts für besonders fleißige Läuferinnen und Läufer. "Brand Community", heißt es im Marketing-Jargon. Apple-Enthusiasten, begeisterte Harley-Davidson-Fahrer, Starbucks-Fans oder eben Mitglieder der Lauf-Programme von Adidas, Nike und Co. – sie alle sind weit über die Produkte einer Marke hinaus emotional mit dieser verbunden.

Läufer werden zu organischen Markenbotschaftern

Die Mitarbeiter nehmen bei diesem Prozess oft eher passive Rollen ein. Bei meinem Lauf sind es vor allem die Läuferinnen und Läufer, die sich untereinander austauschen, so zu organischen Markenbotschaftern werden. Während wir in eher gemächlichem Tempo über den Hackeschen Markt laufen und dabei von angetrunkenen Gästen eines Pubs angefeuert werden, fachsimpelt eine kleine Gruppe vor mir über Schuhe – Brooks, Asics, Hoka und On. Am Ende steht eine Kaufempfehlung für die Läuferin, die gefragt hatte.
 
Die aufgezählten Laufartikel-Hersteller sind nur einige von vielen. Sie alle bewegen sich in einem Markt, der boomt. So wuchs der weltweite Umsatz mit Laufschuhen allein zwischen 2019 und 2022 von neun auf mehr als 15 Milliarden Dollar. Auch in Deutschland wurden vergangenes Jahr mehrere hundert Millionen Euro in Laufschuhe investiert. Und das erwähnte Schweizer Unternehmen "On" verzeichnete im Jahr 2024 knapp 2,5 Milliarden Euro Umsatz – den absoluten Großteil davon mit seinen Schuhen.

Läuferinnen und Läufer mit dem Fernsehturm im Hitnergrund | Bild: privat

Zu schnell für die Kamera: meine Laufgruppe in Berlin-Mitte | Bild: rbb/privat

Ausprobieren, statt nur anprobieren

Einer der offensichtlich erfahreneren Läufer vom Donnerstag ist Pascal. Auf der Friedrichstraße bleibe ich an einer Ampel – das Einzige, was unsere Laufarmada wirklich aufhalten kann – neben dem 26-Jährigen stehen. Von oben bis unten voll und ganz atmungsaktiv bekleidet, passt der Triathlet perfekt in die insgesamt gut ausgerüstete Gruppe. "Hier komme ich mit anderen Leuten in Kontakt", sagt Pascal und ergänzt: "die Marke hinter der Gruppe hat keine Rolle gespielt."
 
Ein paar Meter weiter erzählt Pascal dennoch, dass er darüber nachdenke, sich das neueste On-Modell zu kaufen. "Es macht schon was, dass du die Schuhe ausprobieren kannst", attestiert er mit einem Lachen. Ein Lauf über fünf Kilometer ist schlichtweg etwas anderes als eine Internet-Recherche und zwei Mini-Läufe zur Ladentür.
 
Eine Erkenntnis, die auch Pariya formuliert. Sie läuft am Donnerstag zum ersten Mal bei der Gruppe ihrer Freunde mit. Im Vergleich zu ihren Schuhen seien die geliehenen "sehr weich und luftig" sagt sie. Mit einem knappen "Ja, auf jeden Fall" beantwortet sie die Frage, ob sie darüber nachdenke, sich ein Paar ihrer Testschuhe zu kaufen.

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Die "Lustigen Schleicher" als Gegenbeispiel

Das Konzept der eigens von Sportartikelherstellern organisierten Laufgruppen geht also auf. Dennoch machen die nur einen kleinen Teil aller Lauftreffs aus. Die allermeisten von ihnen sind privat organisiert, von Sportvereinen oder anderen Initiativen. So wie die "Lustigen Schleicher", die einzig aufgrund ihres fantastischen Namens für diesen Text ausgewählt wurden. Dreimal die Woche laufen sie von Wilmersdorf aus durch Berlin.
 
Sportpsychologe Dirk Kleinert bezeichnet das Laufen nicht umsonst als eine "wunderbare Gruppenaktivität". Vielen helfe es, "sich auf die Gemeinschaft in der Gruppe zu freuen", statt allein mit dem inneren Schweinehund zu hadern. So wie Pariya, die sagt: "Es hilft mir, dass meine Freunde mich immer wieder pushen." Oder Julia, die mir auf dem Schlusskilometer mit ruhigem Atem erklärt, dass sie zwar viel allein laufe, "aber gerade abends und im Dunkeln" auch in unterschiedlichen Gruppen.

Menschen als Marketingkonzepte

Kurz darauf endet mein erster Lauf in einer organisierten Laufgruppe mit dem zweiten Betreten des Ladens unweit des Hackeschen Marktes. Und als ich ein paar Momente später zum abschließenden Dehnen auf dessen Boden sitze, kommt ein innerer Konflikt in mir auf. "Die Schuhe waren schon echt bequem", denke ich, "hab ich in London vielleicht die falschen gekauft? Ist es nicht vielleicht sogar gut, zwei Paar Laufschuhe zu haben? Ich hatte ja schließlich früher auch immer mehrere Basketballschuhe …"
 
So geht es ein, zwei Dehnübungen in mir hin und her. Dann fällt mein Blick auf die unzähligen anderen Füße, die in den gleichen Schuhen stecken wie meine und mir fällt wieder auf, was ich zwischenzeitlich fast vergessen hätte: Ich sitze in dem Laden eines Laufartikel-Herstellers, der wöchentlich eine Laufgruppe veranstaltet und diese mit Schuhen ausstattet. In der Hoffnung, nein, mit dem Wissen, dass sich diese Bemühungen finanziell rentieren werden. Und plötzlich fühle mich wie die Personifikation eines aufgegangenen Marketingkonzeptes.