NDR-Sport Vor 20 Jahren: Werder triumphiert beim FC Bayern und wird Meister
Kann eine Meisterfeier schöner sein? Mit einem Sieg beim Erzrivalen Bayern München schnappte sich Werder Bremen vor 20 Jahren vorzeitig den Titel. Am Ende der famosen Saison 2003/2004 stand das Double aus Meisterschaft und DFB-Pokalsieg.
Euphorie und Party-Sause, Freudentränen und gemischte Gefühle - Bremen stand am 8. Mai 2004 Kopf im grün-weißen Meister-Taumel. Und mittendrin im Jubel-Trubel das skurrile Bild eines "Überfliegers", der den Kopf aus der Luke über dem Cockpit einer Chartermaschine steckt - in der einen Hand eine Werder-Fahne, in der anderen eine Kamera, mit der er das wilde Treiben Tausender Fußball-Fans auf dem Rollfeld des Bremer Flughafens filmt.
"Wie, 'ne Luke in einem Flieger?“ hatte sich Thomas Schaaf noch gewundert und sich doch sogleich dem Überschwang des Moments bereitwillig gefügt. Ein ikonisches Foto, heißt es. Sinnbild des Werder-Wunders.
"Überflieger" - Schaafs Schabernack bei der Heimkehr
Irgendjemand hatte den Trainer des neuen deutschen Meisters Werder Bremen an diesem denkwürdigen Tag zu jenem Schabernack animiert. Und: Niemand hatte etwas dagegen - Sicherheitsbestimmungen hin oder her. "Ja, wenn ich da rausgucken kann, gucke ich halt mal raus, dann mache ich das", so Schaaf, dem nach nächtlicher Heimkehr vom speziellen Triumph beim Erzrivalen und hartnäckigen Verfolger Bayern München umgehend der Beiname "Überflieger" anhaftete.
Klasnic: "Das Geilste überhaupt"
Mit 3:1 hatten die Grün-Weißen im Olympiastadion gesiegt, allen Provokationen des Verfolgers eine deftige Absage erteilt und schon zwei Spieltage vor Saisonschluss die vierte deutsche Meisterschaft perfekt gemacht. Nur drei Wochen später folgte das - in der Hansestadt nicht minder ekstatisch gefeierte - Double. "Das Geilste überhaupt", so Stürmer Ivan Klasnic, der den meisterlichen Torreigen in München spektakulär eröffnet hatte, und angesichts des frenetischen Empfangs "Gänsehaut" verspürte.
Bayern München - Werder Bremen 1:3 (0:3)
Tore: 0:1 Ivan Klasnic (19.), 0:2 Johan Micoud (26.), 0:3 Ailton (36.), 1:3 Roy Makaay (55.)
Zuschauer: 65.000
"Als das Tor gefallen ist, da habe ich schon gedacht: Ja, heute ist es so weit", erinnert sich der Stürmer im ARD-Gespräch. Für Tim Borowski brauchte es nur fünf Minuten, bis ihm klar war, dass an diesem Nachmittag für die Bayern nichts zu holen war. "Auch wenn es schwer zu erklären ist nach 20 Jahren."
Ein Riesenpatzer vom "Titan"
Der Aussetzer von Oliver Kahn gehört sicherlich nicht dazu. Als dem mitunter übermotivierten "Titan" der Ball aus der Hand flutschte, Klasnic den Keeper umkurvte und vollendete, war das schlicht und ergreifend ein Riesenpatzer, dem Hohn und Spott folgten. Klasnic: "Ich hab' das vorher mit Olli besprochen. Dass er so nett war und das auch so gemacht hat, da wollte ich nochmal danke sagen."
Jahre später habe er Kahn noch mal darauf angesprochen, wie er am Boden liegend, vergeblich robbend nichts ausrichten konnte. "Ach, lass mich in Ruhe", habe der angesäuert geantwortet - und bestimmt daran gedacht, wie er noch zweimal bitter düpiert den Ball aus seinem Tor holen musste. Weil "Le Chef" Johan Micoud nach Pass von Fabian Ernst mit einem Heber filigran vollendet und Ailton mit einem Kunstschuss die Meister-Party im grün-weißen Fahnenmeer der 10.000 Werder-Fans im Stadion und 20.000 auf dem Bremer Domshof vollends in Fahrt gebracht hatten.
"Heute ist es so weit" - Werder-Stürmer Ivan Klasnic glänzt im Spiel gegen die Bayern.
Allofs und das "mulmige Gefühl"
"Ein Tag, wenn man ihn sich wünschen könnte …", schwärmt Schaaf heute noch - und sein kongenialer "Baumeister" des Teams, Klaus Allofs, der den Tag damals mit einem "mulmigen Gefühl" begonnen hatte, analysiert knallhart: "Kann man in einem besseren Spiel deutscher Meister werden? Nein! Wenn man beim Konkurrenten die Meisterschaft klar macht, wodurch soll das noch zu toppen sein? Und mit Blick aufs Double: "Das kann man nur toppen, mit dem, was dann geschehen ist."
Ailton: Tränenreiche Gedanken
Der Spaß an seinem schlitzohrigen 3:0 ist für Ailton all die Jahre präsent geblieben: "Es war ein Megator und eine kalte Dusche für Bayern", erinnert er sich. Dabei war das Spektakel im Olympiastadion wohl eines der schwersten Spiele seiner Fußballer-Laufbahn. Einerseits die ausgelassene Feier mit den Fans - auf der anderen Seite seine Tränen, die nicht nur aus Freude über den Erfolg flossen. Aber das wussten an diesem Jubeltag nur ganz wenige einzuordnen. Als der inzwischen wieder in Bremen lebende Brasilianer beim ARD-Interview offen davon erzählt, kehren die Emotionen prompt zurück.
Die bitteren Tränen vergoss der Torschützenkönig (28 Tore) und erste ausländische "Fußballer des Jahres" in Deutschland in Erinnerung an seinen toten Bruder. Nach dem Schlusspfiff in München habe er nach oben geguckt und leise für sich gesagt: "Das ist alles für dich!" Auch heute noch kommen ihm beim Erzählen die Tränen. "Ich habe mir vorgestellt, mein Bruder ist zu Hause und guckt dieses Spiel. Er hat es gesehen, von ganz oben."
Der "Kugelblitz" will bleiben
Rotz und Wasser habe Ailton nach dem Abpfiff aber aus noch ganz anderem Grund geheult, weiß Thomas Schaaf zu berichten. Immer wieder habe er geschluchzt und in seinem speziellen Duktus gestammelt: "Holt mich zurück, bitte, ich will bleiben." Aber für den "Kugelblitz" gab es kein Zurück mehr. Ablösefrei ging er zu Schalke 04 und bereut diesen - seinen - selbstgewählten Schritt bis heute.
Noch ehe das Feierbiest zum Tanz mit den Fans in die Kurve aufbrach, hatte er seinen Trainer innig umarmt. Dass beide die gleiche Trauer in sich trugen, ahnte im Jubel der Meisterschaft niemand. Schaaf, der selbst einen Bruder verlor, war wie einst Franz Beckenbauer nach dem WM-Triumph in Rom einsam über den Platz gewandelt - in Gedanken, ganz für sich, ein paar Minuten nur den Blick auf sein Inneres gerichtet. "Für manch einen mochte es ein bisschen irritierend gewesen sein", erzählt Schaaf und fügt hinzu, dass er niemanden habe kopieren wollen. "Ich war da einfach in mir. Das war meine Situation."
Bayern servieren Meister-Schampus
Aus dem Tal der Tränen halfen beiden die Kollegen, die Jubelstürme der Fans und wohl auch die Bayern, die sich schließlich als gute Verlierer zeigten. Der medial gelebte Zwist zwischen Uli Hoeneß und Willi Lemke, der damals im Double-Jahr 2004 als Aufsichtsratsvorsitzender längst ruhiger geworden war, spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Den Schampus für den Meister spendierten die Münchner ohne Murren (und Rechnung) und deponierten zwei Kisten in der Bremer Kabine.
Ob er getrunken oder über die Köpfe gegossen wurde, ist nicht übermittelt. Wohl aber, dass die Party im dampfenden Bad so richtig losging. Von Entmüdungsbecken keine Rede; die Spieler trollten sich in den grünen T-Shirts mit der Meisterschale. Nur Ailton, Ludovic Magnin und Mladen Krstajic hatten sich vorm Sprung ins Wasser komplett ihrer Klamotten entledigt.
In Bremen steppt der Bär
In Bremen steppte derweil der Bär, wie es so schön heißt. In weiser Voraussicht hatte Bürgermeister Henning Scherf alle Warnungen der Werder-Verantwortlichen beiseite gewischt und die Stadt einigermaßen auf das vorbereitet, was durchaus bei einer Niederlage auch hätte nach hinten losgehen können. "Ich hab' gespürt, dass dieses 'Wir dürfen das nicht vorbereiten, weil das sonst in die Hose geht', nicht als Vorwand dafür dienen darf, gar nichts zu tun", so Scherf. Aberglaube hin oder her: "Das musste man aushalten."
Auch Werders Zeremonien-Meister, der damalige Geschäftsführer Manfred Müller, war diesbezüglich nicht zu beneiden: "Klaus Allofs und Thomas Schaaf hätte ich damit gar nicht kommen dürfen. Die hätten mich rausgeschmissen." Improvisation war angesagt - und das hat auch prima geklappt.
Born: "Das größte Ereignis in meinem Leben"
Bevor sich der Werder-Tross zum nächtlichen Essen und vor allem Trinken in einer eiligst geräumten Lokalität niederließ, genossen alle das Bad in der Menge. Die immer größer werdende grün-weiße Party-Gesellschaft war schon in der Innenstadt in Fahrt gekommen und hatte sich Richtung Neuenlander Feld aufgemacht, um die Mannschaft gebührend am Flughafen zu empfangen.
Was sich daheim abspielte, war dem Meister-Tross im Flieger jederzeit brühwarm berichtet worden - und die Vorfreude wuchs von Minute zu Minute. Was das Team dann aber auf dem Rollfeld erlebte, sprengte alle Erwartungen. "Das größte Ereignis in meinem Leben", blickt der damalige Präsident Jürgen L. Born zurück - und die Emotionen kochen hoch wie vor 20 Jahren.
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Sport aktuell | 08.05.2024 | 08:17 Uhr