Ernährung von Radprofis Wenn nach "Units" und Gramm gegessen und getrunken wird
Radprofis können nicht einfach essen oder trinken, was sie wollen. Die "Ernährungsstrategie" für die Tour de France wird in den Teams systematisch angegangen. Es ist eine regelrechte Wissenschaft.
Wenn Primoz Roglic und Co. in den nächsten Wochen bei den Etappen der Tour de France über den Zielstrich fahren, wird ihr nächster Weg immer gleich sein: er wird in den "Kitchen Truck" des Teams Bora-hansgrohe führen. Dort wird es sozusagen um die leibliche "Sofort-Versorgung" der Radprofis gehen.
"Es ist immer gleich: Die Fahrer bekommen dort nach der Etappe zunächst ein Getränk, einen Shake und auf sie ganz persönlich abgestimmte Mahlzeiten", erklärt Robert Gorgos. Der 48-Jährige ist "Head of Nutrition" des Teams. Der diplomierte Ernährungswissenschaftler kümmert sich um die möglichst perfekte Mischung und Menge von Getränke- und Essenszufuhr der Fahrer seiner Mannschaft. Es geht da um Kalorien, Kohlenhydrat-Units, Eiweiße, Flüssigkeits- und Energiehaushalt.
Einst nach Gefühl, heute wissenschaftlich systematisch
Das Thema Ernährung hat sich in den vergangenen Jahren im Profiradsport enorm entwickelt. Was einst rein gefühlsmäßig behandelt wurde, wird heute extrem wissenschaftlich angegangen. Der erfahrene John Degenkolb vom Team dsm-firmenich beschreibt das so: "Als ich 2011 Profi wurde, hatten wir bei meiner ersten Grand Tour zwar auch schon einen Koch dabei, aber das war mehr so auf Zuruf. Wenn man mal Lust auf ein Steak hatte, dann gab es eins."
Heute sei das ganz anders: "Jetzt ist der ganze Ernährungsplan schon drei Wochen vor der Tour komplett niedergeschrieben: Vor den Bergetappen gibt es Low-Fiber-Ernährung, also mit wenig Ballaststoffen, die ja dann weniger Flüssigkeit im Körper bindet, damit man noch mal ein paar hundert Gramm leichter ist."
Mit zwei Kilo mehr keine Chance
Gorgos kann das nur unterstreichen: "Das Niveau im Profiradsport ist immer weiter angestiegen, es entscheiden Kleinigkeiten. Um konkurrenzfähig zu sein, musst du körperlich hundertprozentig fit und gut vorbereitet sein. Es ist heute nicht mehr möglich, mit zwei Kilo Übergewicht noch irgendwie vorn mitzufahren."
Gorgos ist seit nunmehr über sieben Jahren beim Team, seither hat sich enorm viel verändert. Wurden Ernährungsfragen seinerzeit von einer einzigen Köchin bearbeitet, hat das Team heute derer drei im Stab. Hinzu kommen drei Ernährungsberater und der erwähnte "Kitchen-Truck". Er ist sozusagen das "Herz" der Ernährungs-Thematik. "Hier haben wir unseren eigenen Koch, die Fahrer sind unter sich und wir können durch die Abgeschlossenheit des Systems absolute Hygiene sicherstellen", erklärt Gorgos.
Jeder Fahrer wird individuell betreut
Im Anschluss an die "Sofort-Maßnahmen" nach den Etappen im Truck ist das Thema Ernährungssteuerung für die Fahrer und Betreuer noch lange nicht abgeschlossen. Anschließend geht es an die Feinarbeit - bei Profiteams redet man mittlerweile von "Ernährungsstrategie". Beim Team BORA-hansgrohe wird jeder Fahrer ganzjährig von einem Ernährungswissenschaftler individuell betreut. "Da wir mittlerweile zu dritt sind, habe ich zum Beispiel zehn Fahrer im Team, die ich über die Saison hinweg betreue", erklärt Gorgos.
Im "Kitchen-Truck" gibt's Sofort-Maßnahmen
Der Experte strukturiert die Ernährung des Fahrers entsprechend nach Belastung und Verbrauch, wobei schnellkräftige Sprintertypen zum Beispiel deutlich andere Anforderungen erfüllen müssen und Bedürfnisse haben als Rundfahrertypen oder Allrounder. Es geht hier in erster Linie um den unterschiedlichen Verbrauch von Kohlenhydraten: Ein schwerer Sprinterkörper geht beispielsweise erheblich verschwenderischer und ineffizienter mit Kohlenhydraten um als der eines leichten Kletterers.
Das Ziel: immer gleiches Gewicht
Richtig zur Sache geht's dann bei den Rundfahrten, ganz besonders bei Grand Tours wie der Tour de France. "Unser Ziel ist es, die Fahrer während der drei Wochen ständig bei einem gleichbleibenden Körpergewicht zu halten", erklärt der Experte. Maximal 500 Gramm Gewichtsschwankung ist das Limit, für dieses Ziel unterwerfen sich die Fahrer einem strikten System.
Nach einem individuell abgewogenen Frühstück, bei dem die Fahrer täglich zwischen zwei bis drei Varianten mit auf die Etappe und die Anforderungen abgestimmtem Kohlenhydrat-, Protein- und Fettanteil wählen können, stehen für die Zeit des Rennens sogenannte Kohlenhydrat-Units zur Verfügung. Das sind Getränke-, Gel- oder Snack-Einheiten mit jeweils 40 Gramm Kohlenhydraten, von denen die Fahrer je nach Etappenintensität eine vorgegebene Anzahl zu sich nehmen.
Von den Betreuern werden während des Rennens Getränke gereicht
Jeden Tag wiegen und Urin testen
Nach dem Rennen loggen sich die Profis in ein Computerprogramm ein, in das sie ihren tatsächliche "Zufuhr" dieser Einheiten eintragen. Das Programm synchronisiert sich mit dem Radcomputer und je nach Fahrerprofil und der tatsächlich erbrachten Arbeit ergibt sich die Menge und Beschaffenheit der abendlichen Zufuhr von Lebensmitteln.
Ein komplexes System, das von ständigen Analysen und Kontrollen begleitet wird. So wird beispielsweise bei der Tour de France jeder Fahrer vor und nach der Etappe nicht nur gewogen, es wird auch ebenso oft eine Urindichte-Bestimmung vorgenommen.
Alle machen mit
Ein immenser Aufwand, der die Mitarbeit jedes Beteiligten voraussetzt. Gorgos sagt: "Wir können und wollen keinen Fahrer zwingen. Es ist aber so, dass im Spitzen-Radsport eigentlich alle Fahrer akribisch und auch gern mitmachen." Praktisch sieht das dann beim Abendessen so aus, dass nicht etwa nach Lust und Laune in den Nudeltopf gegriffen wird.
Nein, jeder Fahrer bekommt vom Koch, der seine Anweisungen von den Ernährungsberatern bekommen hat, seine individuelle Mahlzeit serviert. Ausnahmen oder zumindest leichte Abweichungen dürften auch hier die Regel bestätigen, wie John Degenkolb beschreibt: "Ich kriege auch eine Guideline, an die ich mich zu halten habe. Aber wenn ich dann mal ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger esse, ist das kein Problem."
Die Ernährungsberaterin des Teams vertraut ihm und sagt laut Degenkolb: "Okay, du kennst deinen Körper, bist bei 17 Grand Tours mitgefahren, das kriegst du auch so hin. Aber das Ziel der Teams ist, den Rennfahrern viele Sachen abzunehmen, damit sie so wenig wie möglich denken müssen."
Eine Aufgabe weniger für die Profis
Das ist es, was Gorgos meint, wenn er vom psychologischen Benefit spricht, den die Fahrer mitnehmen können: "Indem die Fahrer uns vertrauen, können sie ein großes Maß an Selbstvertrauen ziehen. Sie haben die Gewissheit, dass sie ernährungstechnisch alles getan haben, um maximalen Erfolg zu haben. Die Frage nach der richtigen Ernährung ist für Radprofis ein Stressfaktor, der ihnen hier abgenommen wird."