Paralympics 2024 in Paris Valentina Petrillo - Transgender-Athletin am Ziel
Bei den Paralympics in Paris ist Valentina Petrillo nach jahrelangem Kampf als Transgender-Athletin an den Start gegangen. Dafür musste und muss sie viel durchstehen.
Am 2. September gegen 11 Uhr ging für Valentina Petrillo ein Traum in Erfüllung, der noch viel mehr ist als die Chance auf eine paralympische Medaille. Denn bevor sie in 58,35 Sekunden ihren Vorlauf der Para-Leichtathletinnen über 400 Meter der Klasse T12 (sehbehindert) überstand, hatte die Italienerin schon im Rampenlicht gestanden - als eine der ersten Transgender-Athleten in der Paralympics-Geschichte.
Was für Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), und die 50-Jährige selbst "ein wichtiges Symbol für Inklusion" ist, ist für viele andere allerdings auch ein sportliches Ärgernis. Denn seitdem Petrillo, die als Mann auf die Welt kam, bei Para-Wettbewerben der Frauen antritt, bekommt sie jede Menge Gegenwind.
Es gab Petitionen gegen ihr Mitwirken, Konkurrentinnen wollten sich nicht mit ihr fotografieren lassen - und auch ihre Nicht-Berücksichtigung durch den italienischen Verband vor den Paralympics in Tokio vor drei Jahren hatte ein "Geschmäckle".
Petrillos Wunsch: "Die erste von vielen"
"Ich kann es immer noch kaum glauben und bleibe auf dem Boden, denn meine Chance, in Tokio teilzunehmen, habe ich ganz knapp verpasst", sagte Petrillo zuletzt. Doch es deutete nichts darauf hin, dass ihr großer Wunsch jetzt nicht doch mit ein wenig Verspätung Realität wird. Und so äußerte sie im Vorfeld der Paralympics auch schon deutlicher ihre Vorfreude auf den großen Moment, der ihr bevorstand.
Valentina Petrillo im Training.
"Ich habe drei Jahre auf diesen Tag gewartet und in den letzten drei Jahren alles getan, was möglich war, um ihn zu verdienen. Der historische Wert, die erste Transgender-Frau zu sein, die an den Paralympics teilnimmt, ist ein wichtiges Symbol für Inklusion", sagte Petrillo der BBC. Sie wolle allerdings "die erste von vielen" sein, "ein Bezugspunkt für andere, eine Quelle der Inspiration. Meine Erfahrungen können für andere Menschen nützlich sein, unabhängig davon, ob sie eine Sehbehinderung haben oder nicht, ob sie trans sind oder nicht."
Die erste Transgender-Athletin der Geschichte ist Petrillo laut IPC indes nicht. Den Anfang machte 2016 in Rio de Janeiro die blinde Diskuswerferin Ingrid van Kranen aus den Niederlanden.
Petrillo lebte "als Mann verkleidet"
Mit 14 Jahren wird bei Petrillo, damals noch Fabrizio ("Er war ein harter Kerl, der herablassend über Frauen sprach und sich in seinem Privatleben wie eine Frau aufführte"), das Stargardt-Syndrom (eine unheilbare Augenerkrankung) diagnostiziert, heute liegt Petrillos Sehfähigkeit nur noch bei 2,5 Prozent.
Sie war schon damals ein talentierter Läufer, gab diese Leidenschaft aber auf. Nach ihrem Schulabschluss in ihrer Heimat Neapel studierte sie 1994 in Bologna Informatik und begann wieder mit Sport. Petrillo schaffte es in die italienische Blinden-Nationalmannschaft der Männer im Fußball.
Mit 41 Jahren kehrte Petrillo auf die Tartanbahn zurück und gewann bei den Männern in drei Jahren elf nationale Para-Titel, ihr erstes offizielles Rennen als Frau bestritt sie im September 2020. Schon ihr gesamtes Leben habe sich Petrillo als Frau gefühlt, sich "als Mann verkleidet", wie sie sagte. Am 14. Juli 2017 gestand sie ihrer Ehefrau spontan und ungeplant, dass dem so war. Im Folgejahr begann sie ihr Leben als Frau. 2019 startete die Transition, die im selben Jahr auch abgeschlossen war.
Müller-Rottgardt: "Im Leistungssport finde ich es schwierig"
Sechs Monate danach war Petrillo im Vergleich zu ihrer Zeit als Mann über 200 Meter 2,5 Sekunden langsamer, über die 400 Meter - bei den Paralympics startet sie in den beiden Disziplinen - sogar elf Sekunden, aber sie sagte: "Lieber eine langsame, glückliche Frau als ein schneller, unglücklicher Mann." Doch sie steigerte sich und gehört nun zu den besten Läuferinnen in ihrer Klassifizierung, bei den Para-Weltmeisterschaften in Paris im vergangenen Jahr gewann sie jeweils die Bronzemedaille.
Einen dritten Platz erlangte sie aber nur, weil Katrin Müller-Rottgardt nachträglich disqualifiziert wurde, da ihr Guide das Verbindungsband der beiden zu früh losgelassen hatte. Auch jetzt wird sie gegen Petrillo antreten und sieht das nicht gänzlich unkritisch. "Grundsätzlich soll im Alltag jeder so leben, wie er sich wohlfühlt. Im Leistungssport finde ich es aber schwierig", sagte Müller-Rottgardt der "Bild".
Petrillo habe "lange als Mann gelebt und trainiert, da steht im Raum, dass da körperliche Voraussetzungen anders sind als bei jemandem, der als Frau zur Welt kam. Sie könnte somit Vorteile haben."
Rechtlich ist die Lage jedoch klar: Die Italienerin hat durch die Hormontherapie ihren Testosteronspiegel so weit gesenkt, dass sie die Zulassungsbestimmungen der Para-Leichtathletik erfüllt. Und sie nehme jede Kontrolltestung wahr, beteuert Petrillo.
Olympia-Boxerinnen Yuting und Khelif sorgten für Diskussionen
Dennoch sagte sie der Nachrichtenagentur AFP: "Ich weiß, dass ich kritisiert werde, dass die Leute nicht verstehen werden, warum ich das tue. Doch ich bin hier, habe jahrelang dafür gekämpft und keine Angst." Dabei wird sie auch in sozialen Medien vielfach angefeindet. "Für mich ist es wichtig, mir meinen Traum hier zu erfüllen und mich selbst zu verwirklichen. Ich fühle mich als Frau. Deswegen ist es richtig, dass ich mich mit Frauen messe", sagte Petrillo im Sportschau-Interview vor ihrem ersten Start.
Es wird also aller Voraussicht nach ein ähnliches Aufsehen um ihre Teilnahme geben wie um die der Boxerinnen Lin Yuting und Imane Khelif - letztere beklagte "bösartige Kampagnen" und "digitale Lynchjustiz" - bei den Olympischen Spielen. Da hatte übrigens in Tokio vor drei Jahren mit der Gewichtheberin Laurel Hubbard bereits die erste Transgender-Athletin teilgenommen.
Ein grundlegendes Problem, das diese Sportlerinnen haben, ist, dass es keine einheitlichen Regeln gibt. Bei den Olympischen Spielen dürfen Transgender-Frauen in der Leichtathletik nicht starten, bei den Paralympics schon, weil die Verbände World Athletics und World Para Athletics unterschiedlich entschieden haben.
Für das IPC ist jede Person, die rechtlich als Frau anerkannt ist, teilnahmeberechtigt. Sie überlässt aber den einzelnen Sportarten die endgültige Entscheidung.
DBS fordert Transgender-Kriterien für faire Wettkämpfe
Der Deutsche Behindertensportverband (DBS) betonte auf Sportschau-Anfrage, "große Expertise im Umgang mit Minderheiten" zu haben. Außerdem setze man sich "tagtäglich für die Verwirklichung ihrer Rechte ein. Dazu gehört die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ebenso wie die Selbstverwirklichung eines jeden Menschen - auch hinsichtlich der sexuellen Identität."
Der DBS sagte aber auch: "Die Freiheit Einzelner darf nicht zu einer Benachteiligung anderer führen." Der paralympische Spitzensport zeichne sich dadurch aus, dass alle Teilnehmenden "in Abhängigkeit von den aus der Behinderung resultierenden Fähigkeiten in Startklassen eingeteilt werden, um einen fairen Wettkampf untereinander zu gewährleisten. Dieses Prinzip muss vom Grundsatz her auch in der Transgender-Thematik Gültigkeit haben."
Und deswegen hat der Verband einen klaren Auftrag an die sportlichen Entscheider: "Die Diskussion umfasst den gesamten Wettkampfsport, daher fordert der DBS die internationalen Sportverbände auf, Kriterien zu erlassen, die einen verlässlichen und validen Indikator darstellen", um niemanden zu benachteiligen oder zu bevorteilen.
Es wird deutlich: Petrillo kommt als Transgender-Athletin an ihr Ziel, bei den Paralympics als Frau teilnehmen zu dürfen - der Applaus könnte sich allerdings in Grenzen halten.