Tempomacher beim Berlin Marathon Weltrekorde im Windschatten der Hasen
13 Mal wurde beim Berlin Marathon ein Weltrekord aufgestellt. Zuletzt von Tigist Assefa. Ihr Name geht damit in die Geschichte ein. Der ihres Tempomachers allerdings nicht.
Tigist Assefa kniet auf der Straße des 17. Juni, im Hintergrund das Brandenburger Tor. Ihre Arme sind weit ausgestreckt, ihren Kopf hat sie in den Nacken geworfen. Mit geschlossenen Augen und einem breitem Grinsen auf den Lippen, inhaliert sie den Applaus, der allein ihr gilt, der schnellsten Marathon-Läuferin der Welt.
Während Assefa beim Berlin Marathon 2023 weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat, werden sich nur wenige an den Namen eines Mannes erinnern, der ihr zu der Rekordzeit von 2:11:53 Stunden verholfen hat. Ein Mann, dem Assefa über etliche Kilometer gefolgt ist, laufend, in seinem Windschatten. Ein Mann mit dem durchaus denkwürdigen, aber in der Szene verbreiteten Namen "Hase".
Girmay Birhanu Gebru ist aber kein Hase, sondern ein Tempomacher. Der aus Äthiopien stammende Langstreckenläufer ist früher selbst mit eigener Startnummer ins Ziel gelaufen. Seine persönliche Bestleistung erreichte er 2014 beim Dubai Marathon. In einer Zeit von 2:05:49 Stunden beendete Gebru das Rennen und wurde Dritter. Mittlerweile verhilft er anderen zum Erfolg.
Girmay Birhanu Gebru (r.) verhilft Tigist Assefa zur Weltrekordzeit
Anführen, aber nicht gewinnen
Wie Zugpferde spannen sie sich vor die Favoriten. Tempomacher führen das Rennen an und sorgen, durch ihr gleichmäßiges Tempo, für optimale Durchgangszeiten – bis zu einer verabredeten Kilometermarke. Diese wird in Absprache mit der Rennleitung festgelegt.
"Die Tempomacher der Frauen schalten erst kurz vor dem Brandenburger Tor einen Gang zurück, dann lassen sie die Frau vorbeiziehen", erklärt Mark Milde, Renndirektor des Berliner Marathons. Anders ist das bei den Männern. "Die meisten Tempomacher der männlichen Athleten steigen nach 21 Kilometern aus, nur wenige halten bis zur 30-Kilometer-Marke durch", führt er fort.
Dass es aber auch anders geht, hat Simon Biwott im Jahr 2000 gezeigt. Der kenianische Tempomacher sollte nach 28 Kilometern aussteigen, tat es aber nicht. Biwott lief durch, am spanischen Favoriten Antonio Pena vorbei – und gewann. Drei Jahre später machte sich Sammy Korir einen Namen. Der Kenianer sollte den Favoriten Paul Tergat eigentlich nur als Tempomacher begleiten. Schlussendlich wurde er Zweiter – eine Sekunde hinter Tergat, der in 2:04:55 Stunden zum Weltrekord rannte.
Vom Hindernisläufer zum Tempomacher
Vom Ehrgeiz gepackt, so wie Simon Biwott oder Sammy Korir, ist Steffen Uliczka nicht. "Mein Job ist erledigt, wenn ich die Vorgaben der Läuferin erfülle", sagt er im Sportschau-Interview. Es gehe nicht mehr darum zu zeigen, was in ihm stecke. "Ich habe keine Lust mehr mich ans Limit zu quälen", ergänzt der erfahrene Tempomacher und ehemalige Hindernisläufer.
Steffen Uliczka bei der Leichtathletik-EM 2014 in Aktion
Steffen Uliczka wurde in seiner Paradedisziplin über die 3000 Meter sechs Mal Deutscher Meister, 2012 qualifizierte er sich für die Olympischen Spiele in London. Im Herbst 2014 gab er seinen Wechsel auf die Marathondistanz bekannt, zwei Jahre später lief er in Berlin als schnellster Deutscher ins Ziel. Der Höhepunkt seiner Marathon-Karriere. Doch die Tage, an denen Uliczka seiner persönlichen Bestzeit hinterherjagt, sind gezählt.
"Ich bin der Dirigent" mit Tempogefühl
Mittlerweile ist seine Rolle eine andere. "Ich bin der Dirigent", sagt der 40-Jährige. Die Aufgabe der Läuferin sei es, ihm zu folgen und zu vertrauen. Denn er ist derjenige, der die Zeit im Blick behält. Aber nicht buchstäblich. Denn Zeit ist für ihn mehr oder weniger ein Bauchgefühl. Dies sei "Voraussetzung für den Job" und nur ein Grund, warum Steffen Uliczka zu den begehrtesten Tempomachern Europas zählt.
Seine schnellen Beine sind gefragt. Unter anderem bei Katharina Steinruck. Die Frankfurterin löste 2021 im niederländischen Enschede das Olympia-Ticket für Tokio – mit der Unterstützung von Uliczka. Sie ist aber nicht die Einzige, die auf sein Tempogefühl schwört. Auch Läuferinnen wie die Schwestern Debbie und Rabea Schöneborn und Lisa und Anne Hahner schätzen die Zusammenarbeit mit ihm.
Veranstalter zahlen vierstellige Summen
Engagiert werden Tempomacher wie Uliczka vom Veranstalter. Ihre Leistung wird honoriert. In welcher Höhe sich die Ausgaben für Tempomacher beim diesjährigen Berlin Marathon belaufen, möchte SCC Events auf Sportschau-Anfrage nicht preisgeben. Schätzungsweise handelt es sich pro Tempomacher um eine mittlere vierstellige Summe. Im Jahr 2015 bezifferte "Tagesspiegel" die Ausgaben für alle Tempomacher zusammen geschätzt auf 50.000 Euro.
Selten bringen Athletinnen und Athleten ihre eigenen Tempomacher mit. "Eliud Kipchoge ist da eher die Ausnahme", sagt Mark Milde. Der Marathon-Superstar ist Dauergast in Berlin. Mit fünf Siegen ist er alleiniger Rekordhalter auf der Strecke. Immer mit dabei: seine Tempomacher, mit denen er im kenianischen Iten trainiert. Am kommenden Sonntag (29.09.2024) wird Kipchoge jedoch nicht starten. Ebenso wie Tigist Assefa.
Eliud Kipchoge (r.) läuft seinen Tempomachern hinterher
Diesmal werden andere Läuferinnen und Läufer der Zeit hinterherjagen. Und ihren Tempomachern.