Ortsbesuch beim Zehnkampf-Rekordler Wie Leo Neugebauer in Austin an seinem Olympia-Traum arbeitet
Die Leichtathletik-EM in Rom findet ohne den deutschen Rekordhalter im Zehnkampf statt: Leo Neugebauer hat stattdessen für seine Universität mit deutschem Rekord den Sieg bei den US-College-Meisterschaften in Eugene eingefahren. Sein Alltag in den USA ist eng getaktet, die sportlichen Bedingungen in seiner Wahlheimat Austin hochprofessionell. Ein Ortsbesuch bei "Leo the German", der an seinem großen Ziel arbeitet - eine Olympia-Medaille.
Bevor Leo Neugebauer am Morgen seine Studenten-WG verlässt, wirft er schnell noch einen Blick auf den heutigen Tagesplan. Vorlesung, Training, Physiotherapie, Business-Workshop und dann Lernen für die morgige Prüfung. "Die Zeit sollte jetzt noch für einen kurzen Stopp passen", sagt der 23-Jährige und schwingt sich auf seinen E-Scooter. Nächster Halt: die Rückseite der Lyndon B. Johnson Presidential Library auf dem Campus der University of Texas at Austin.
Kein Tag ohne #ootd von "le0thegerman"
Das imposante Gebäude liegt nur wenige Minuten von Neugebauers Zuhause entfernt und ist einer seiner Lieblingsorte in Austin. "Ich mag, dass hier auf der Rückseite alles so ruhig und gelassen ist", sagt er. Der Ort hat auch einen guten Lichteinfall für Fotos. Neugebauer posiert hier regelmäßig in seinem "Outfit des Tages" und teilt Bilder unter dem Hashtag #ootd auf Instagram - User-Name: "le0thegerman". "Ich interessiere mich sehr für Mode und kleide mich gerne gut." Viel Zeit zum Posten bleibt nicht: In ein paar Minuten starten die letzten Vorlesungen des Semesters, gefolgt von zwei Trainingseinheiten und weiteren Terminen.
Die Stadt der guten Laune
Austin, das ist für Neugebauer gleichbedeutend mit guter Laune. Die Stadt am Colorado River zeichne ein ganz besonderes Lebensgefühl aus. "Es ist hier schön warm, alle haben irgendwie immer gute Laune, man kann super viel draußen unternehmen und es gibt unglaublich viele Restaurants oder Cafés", sagt Neugebauer, den an der Uni eigentlich alle nur unter "Leo the German" kennen. Der Vibe der Stadt gefalle ihm einfach. Mit "schön warm" meint Neugebauer die milden und sonnigen Winter, aber auch Temperaturen von 40 Grad und mehr in den texanischen Sommermonaten. Zu heiß sei ihm das eigentlich nicht, sagt er und lacht.
Ich will nichts heraufbeschwören, aber wenn alles passt, könnte Leo Dinge erreichen, die niemand vor ihm geschafft hat.
Der Zehnkämpfer hat sich vor rund fünf Jahren ganz bewusst für den Schritt in die USA entschieden. Mit seinem damaligen Heimatverein LG Leinfelden-Echterdingen und guten sportlichen Leistungen im Rücken bewarb sich der junge Sportler bei unterschiedlichen Universitäten in Texas, Iowa und Minnesota auf ein Stipendium. Dann ging alles ganz schnell. "Nach dem Besuch hier in Austin wusste ich sofort: Hier will ich hin, das wird cool", erinnert er sich. Mit der Universität Austin wählte Neugebauer eine der führenden staatlichen Universitäten des Landes mit einem jährlichen Sport-Etat von rund 220 Millionen Euro - und das macht sich bemerkbar.
Leo Neugebauer mag den Vibe der Stadt Austin - und die Wärme.
Während sich 2023 der gesamte deutsche Spitzensport rund 300 Millionen Euro Förderung teilen musste, schöpft man in Austin aus dem Vollen. Athleten wie Neugebauer haben hier exzellente und hoch professionelle Voraussetzungen. Neben einer erstklassigen Ausstattung in allen Trainingsbereichen und der medizinischen Abteilung, kümmern sich neben drei Vollzeit-Trainern, auch Krafttrainer, Ernährungswissenschaftler und Physiotherapeuten um Neugebauer und Co.
Nun auch deutscher Siebenkampf-Rekordhalter in der Halle
Besondere Bedingungen, die jedoch längst nicht überall in den USA Standard sind. "Es gibt vielleicht zwei oder drei weitere Universitäten im Land, die mit uns mithalten können", sagt Jim Garnham. Der Mehrkampf-Trainer betreut nur eine kleine Gruppe von insgesamt zwölf Studierenden, darunter auch den 23-jährigen Deutschen. Innerhalb von vier Jahren formte das Trainerteam um Garnham aus einem relativ Unbekannten den Leichtathleten des Jahres 2023, deutschen Rekordhalter im Zehnkampf (8.961 Punkte) und Hallen-Siebenkampf - Anfang März übertraf Neugebauer beim College-Event "NCAA Indoor Championships" in Boston mit 6.347 Punkten den Rekord von Frank Busemann aus dem Jahr 2002 in Tallinn (6.291 Punkte).
Zur Rundum-Versorgung in Austin zählen auch sogenannte academic advisors. Sie stellen sicher, dass Neugebauers Studium neben täglichem Training und diversen Wettkämpfen während des laufenden Semesters nicht zu kurz kommt. Auch um alltäglich Dinge, wie frische Kleidung, neue Kontaktlinsen oder eine ausgewogene Ernährung, kümmert sich die Universität. "Man hat hier so viele Hilfsmittel, das ist definitiv ein Vorteil, den ich gerne mitnehme", sagt Neugebauer, der seit November 2023 beim VfB Stuttgart unter Vertrag steht.
Vollstipendium und "kleiner" Sponsor-Deal helfen
Der 23-Jährige hat ein Vollstipendium und bekommt obendrauf ein kleines Gehalt für die Miete, Lebensmittel und andere Ausgaben. Zusätzliches Geld über Sponsorendeals zu generieren, ist wegen seines Studentenvisums allerdings kaum möglich. Im Gegensatz zu seinen amerikanischen Kommilitonen darf Neugebauer in den USA nicht arbeiten. Die NIL-Regel, kurz für "name, image, likeness" erlaubt Studierenden, Sponsorendeals einzugehen. Für Neugebauer sprang aufgrund der Regularien nur ein "kleiner mit Nike" heraus, für den er jedoch sehr dankbar sei. "Ansonsten konzentriere ich mich einfach auf andere Dinge, wie creating content", sagt er.
"Hook 'em Horns" - auch Neugebauers Markenzeichen
In Vlogs, Posts und Stories teilt der WM-Fünfte von Budapest 2023 sein Leben in Austin: Wetter, Wettkämpfe, das Leben auf dem Campus oder auch seine Lieblingscafés. Mit dem Spruch "Hook 'em Horns" feuern zu Spielen und Wettkämpfen tausende Fans die Sportlerinnen und Sportler der Universität Austin an. Das dazugehörige Handzeichen symbolisiert die beeindruckenden Hörner des Maskottchens der Universität: Bevo, ein tonnenschweres Texas Longhorn. Die zu Hörnern geformte Hand ist schnell auch zu Neugebauers Markenzeichen auf Fotos und bei Wettkämpfen geworden.
"Man hat hier so viele Hilfsmittel, das ist definitiv ein Vorteil, den ich gerne mitnehme."
Meditation, Jazz und viel trinken
Der Zehnkämpfer mag gute Stimmung, motiviert gerne das Publikum mit einem lauten "Let's go!" und der Einladung zum Klatschen, bevor er zum Sprint, Sprung oder Wurf ansetzt. Rituale und regelmäßige Strukturen sind Neugebauer wichtig. Zahlreiche Zettel an der Wand seines Zimmers erinnern ihn an seine "daily routine": Eine ganze Flasche Wasser am Morgen trinken, Meditieren, sich zehn Minuten dehnen, guten Jazz hören und dann die To-Do-Liste für die Uni durchgehen - so starten Neugebauers Tage in der texanischen Hauptstadt. Mit seiner Familie hat er wöchentlich Kontakt, das ist ihm trotz allem Trubel sehr wichtig.
Ich mache einfach mein Ding und versuche, von Tag zu Tag besser zu werden.
Trainer Garnham schätzt die anhaltend gute Laune und vor allem die große Professionalität seines Schützlings. Er gehe sehr gut mit sich und seinem Körper um, das mache ihn zu einem Weltklasse-Athleten, so Garnham. "Leos größte Stärke ist wahrscheinlich, dass er seine Fehler erinnert, sie analysiert und danach kein zweites Mal begeht." Mit zwei Metern Körpergröße und fast 110 Kilogramm bringt Neugebauer zudem eine besondere Statur mit. Im ersten Jahr nach seinem Umzug nach Austin 2019 mussten die Coaches erst herausfinden, was bei ihrem neuen Schützling funktioniert - und was nicht. "Er hat eine enorme Körpermasse, das müssen wir berücksichtigen." Auch, dass der 23-Jährige bislang nahezu verletzungsfrei geblieben ist, unterstütze die beeindruckende Entwicklung des Sportlers.
Ob sie in diesem Sommer schon den Höhepunkt findet? "Ich will nichts heraufbeschwören, aber wenn alles passt, könnte Leo Dinge erreichen, die niemand vor ihm geschafft hat", sagt Coach Garnham mit Blick auf die Olympischen Spiele in Paris. Frei nach dem Motto: "the sky is the limit".
Studiumabschluss geschafft - Zukunft offen
Neugebauers Fokus liegt zurzeit voll auf dem Sport. Seinen Studienabschluss der Wirtschaftswissenschaften hat er mittlerweile in der Tasche, das Studentenleben in Austin endet und damit auch seine Aufenthaltsgenehmigung in den USA. Wohin es danach für Neugebauer geht, lässt Deutschlands bester Zehnkämpfer offen. Er habe viele Geschäftsideen, könne sich auch sehr gut ein Leben als Unternehmer mit eigenem Start-Up vorstellen.
Nach dem Erfolg bei den College-Meisterschaften in Eugene mit deutschem Rekord ruft nun Olympia in Paris. Druck verspüre Neugebauer auch trotz der hohen Erwartungshaltung nicht. "Ich mache einfach mein Ding und versuche, von Tag zu Tag besser zu werden", sagt er und verabschiedet sich. Für "Leo the german" geht es in Austin weiter zum nächsten Termin auf seiner Liste, natürlich per E-Scooter und mit einem breiten Lachen im Gesicht.