Busemanns WM-Kolmune "Leo the German" - Im US-Sport-Business zum Riesen gereift
Zehnkämpfer Leo Neugebauer liegt bei der WM in Budapest auf Goldkurs. Warum der 23-Jährige in den USA in Riesenschritten zum echten Wettkampf-Riesen geworden ist und was das über das deutsche Sportsystem aussagt, darüber macht sich ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann Gedanken.
"Leo the German" Neugebauer ist schuld, dass Jürgen Hingsen vor einigen Wochen leicht verwirrt aus dem Schlaf gerissen wurde, als man ihm mitteilte, dass sein Deutscher Rekord gebrochen worden sei. Mir ging es ähnlich, musste ich doch feststellen, dass ich fortan vier weitere Punkte vom deutschen Rekord entfernt bin. Trotzdem war diese neue nationale Bestleistung bestenfalls eine Randnotiz. Nerds und Leichtathletik-Interessierte wussten eben dieses, aber der breiten Öffentlichkeit fehlte die barrierearme Plattform, sich diese Meldungen anzueignen.
Mischung zwischen Goliath und dem Scheinriesen Tur Tur
Ich traf ihn im vergangenen Jahr zum ersten Mal. Den Studenten aus Texas. Ich sah ihn in Eugene am Horizont und dachte, ich sehe irgendwas zwischen Goliath und dem Scheinriesen Tur Tur. Doch je näher ich kam, desto größer wurde er. Vor ihm machte ich Halt und seitdem habe ich wahrscheinlich einen verrenkten Halswirbel.
Groß, imposant und authentisch frisch, stand er vor mir. "Boah, bist du ein Riese!" entfuhr es mir. Auf dem Papier mit seinen 22 Jahren schon kein Schlechter, bei den Weltmeisterschaften in Eugene Zehnter. Eine Randnotiz. Deutschlands Nummer eins, Niklas Kaul, war besser. Und ein paar Wochen später Europameister. Neugebauer blieb in den USA.
Stipendium in Texas
Leo Neugebauer studiert mit einem Stipendium in Texas, bekam dann wohl eines Tages vor ein paar Jahren einen Anruf aus den Staaten und wurde gefragt, ob er nicht rüberkommen wolle. In die USA. Ins Epizentrum des Hochleistungssports. Wenn hier ein Talent auf einem Schulsportfest gesehen wird, dann bekommt er neuerdings eine Teilnahmeurkunde. Wie der zweite, fünfte, achte. Ist nämlich schlecht für die Entwicklung des Unterlegenen, dass der sieht, dass er langsamer ist.
Leistung lohnt sich - Leistung muss sich lohnen
In den USA hast du andere Möglichkeiten. Wenn du gut bist, viele Wettkämpfe für die Uni machst, deine Leistung bestätigst, dann bekommst du einen erstklassigen Abschluss, viel Lebenserfahrung und vor allem ein Sportlerleben, dass es in sich hat. Wenn du diese Knochenmühle mit all ihren Einsätzen nicht überlebst, dann darfst du gehen. Mitunter grausam. Ein harter Alltag. Aber Leistung lohnt sich. Leistung muss sich lohnen.
Weltweit sind die Unis auf der Suche nach jungen, guten Athletinnen und Athleten, die gewillt sind, im Dienste der Uni gute Leistung zu erbringen. In der Wirtschaft nennt man das wohl Außendienst und Kaltakquise. Und das ist schon ein erster Anhaltspunkt. Sport ist Business. Auf vielen Ebenen. In den USA bekommen Leo und seine Kommilitonen einen Plan, wie sie ihren Alltag managen. Von morgens bis abends. Vom Essen bis zur Einkleidung. Training und Studium sind aufeinander abgestimmt und die Pflege kommt nicht zu kurz.
200.000.000 Dollar Sportetat?
Der Sportetat der Uni in Texas soll über 200.000.000 Dollar betragen. Im Jahr. Also ich kann das nicht glauben. Wo soll die ganze Kohle denn herkommen? Wer bezahlt denn das für ein bisschen Sport? Und das ist das Problem. Sport ist bei uns ein Nice-to-have. Da ist das Business. Sport ist gesund. Bewegung ist wichtig. Da ist das Business und ein Riesenwirtschaftsfaktor. Bei uns findet Sport in Vereinen statt, die acht Euro Monatsbeitrag verlangen. Acht! Nicht 80 oder 800, nee, acht. Vielleicht sogar zehn oder zwölf.
"Sport ist bei uns ein Nice-to-have. In den USA ist das Business."
Dafür können gewillte Kinder und Jugendliche fünf mal die Woche zum Training. Machen Wettkämpfe und bekommen noch eine Nikolaustüte am Jahresende. Jacuzzi und Massage ist für acht Euro nicht drin. Muss ja auch nicht, weil Sport nicht ganz so wichtig ist. Okay, der Fußball schon. Gewinnt der Lieblingsverein, ist das Wochenende gerettet. Die Identifikation mit seinem Club funktioniert hier. Nur ist das in den Staaten auch die Uni. Bei den Collegemeisterschaften gibt es tausende Zuschauer. Das Highlight im Terminplan.
Sport muss eine Wertigkeit haben
Bei uns wären die Eltern da, wenn die Kinder Glück haben, und die Trainer, wenn sie nicht gerade in ihrem Hauptberuf arbeiten müssen. Trainer ist jenseits des Atlantiks ein angesehener Beruf, hier oftmals Hobby. Wie soll das gehen? Sport hat eine Wertigkeit, muss eine haben. Die Strukturen der Amerikaner sind andere, das ist klar. Ich bewundere hier in Deutschland jeden, der sich im Sport engagiert, der dafür lebt, seine Energie einbringt! Das ist notwendig, das ist so unglaublich viel Arbeit.
Trotzdem schaffen es hier wirklich nur die ganz verrückten Überzeugungstäter, die den Sport als solches lieben, jeden Tag auf den Sportplatz gehen und fremde Kinder anzuleiten, das Beste aus sich herauszuholen.
Wir haben andere Strukturen, ein anderes Verständnis
Aber wie schaffen wir es, dass der Sport, die Trainer, die Athleten genau das bekommen, was ihre Arbeit wertschätzt und sie sich entwickeln können? Wir haben hier andere Strukturen, ein anderes Verständnis, eine andere Identifikation. Es ist schwierig, erklärt aber, weshalb Athleten wie Leo Neugebauer in die USA gehen und dort in Riesenschritten zum echten Riesen werden.