Die deutsche Hockey-Nationalspielerin Lena Frerichs beim Freundschaftsspiel gegen Belgien
interview

Hockey-EM Hockey-Frauen brauchen "Sternstunde" - WM-Titel für Männer eine Bürde?

Stand: 18.08.2023 10:28 Uhr

Am Freitag startet die Hockey-EM der Frauen und Männer in Mönchengladbach. Die Bundestrainer Valentin Altenburg und André Henning über die Ausgangslagen ihrer Teams.

Von Christina Schröder

Sportschau: Für die Hockey-Nationalmannschaft der Männer, die "Honamas“, ist die EM das zweite Turnier-Highlight in diesem Jahr. Im Januar sind Sie, André Henning, mit den deutschen Hockey-Männern sensationell Weltmeister geworden. Erstmals seit 17 Jahren. Trägt Sie dieser Titel oder ist er auch eine Bürde?

André Henning: Er kann insofern eine Bürde sein, als dass wir jetzt nach sehr vielen Jahren, sehr viel Investment und sehr viel Energie, ein unglaublich großes Ziel erreicht haben. Dieses Ziel macht dich zufrieden, im besten Sinne aber auch erstmal locker.

Vorher war die Mannschaft wahnsinnig einfach zu motivieren. Für unseren Prozess ist es sehr hilfreich, dass die EM zu Hause stattfindet. Man spürt, dass im Team Euphorie aufkommt. Aber ein paar Sachen sind uns vor der WM sicherlich leichter von der Hand gegangen als jetzt. Als Druck empfinden wir den Titel aber nicht.

Sportschau: Haben Sie als Trainer in der Vorbereitung irgendetwas anders gemacht?

Henning: Ich habe losgelassen und die Jungs mal ganz bewusst in Ruhe gelassen, was einem Bundestrainer natürlich gar nicht so leicht fällt. Letztendlich beruht in unserem dezentralen System der Großteil des Erfolges unserer Nationalteams auf dem täglichen Training zu Hause und damit über Eigenmotivationen und Selbstdisziplin. Wir haben den Jungs Zeit gegeben, sich mental und körperlich zu erholen.

André Henning, Hockey-Trainer der deutschen Männer-Nationalmannschaft
André Henning, Bundestrainer Hockey-Männer
- 39 Jahre alt
- seit Januar 2022 Cheftrainer der deutschen Hockey-Männer
- 2016 gewann er als Co-Trainer der Frauen bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro Bronze

Sportschau: Valentin Altenburg, Ihr Team, die Nationalmannschaft der Frauen, hat zuletzt eine starke Entwicklung gezeigt, aber bislang fehlt der Erfolg. Der bislang letzte Titel der "Danas" liegt mit der Europameisterschaft 2013 bereits zehn Jahre zurück. Wo bleibt die Belohnung?

Valentin Altenburg: Wir haben letztes Jahr angefangen, K.o.-Spiele zu gewinnen, gegen Top-Mannschaften auf Augenhöhe mitzuspielen und zu verstehen, was wir brauchen, um diese zu schlagen. Aus der Mitte der Mannschaft spüre ich seitdem eine große Sehnsucht, ganz oben zu stehen. Aus diesem Traum haben wir innerhalb des letzten Jahres konkrete Ziele für uns abgeleitet, damit die Sehnsucht kein Luftschloss bleibt.

Wir schauen auf uns selbst, lassen uns nicht ablenken und ziehen unser Ding durch. Da ist das Team sehr stark geworden. Hier ist die Weltspitze vertreten. Wir werden absolute Weltklasse-Leistungen, richtige Sternstunden brauchen, um ganz oben zu stehen.

Unser schlechtester Tag und unser schlechtestes Spiel geht immer mindestens unentschieden aus und dann gewinnen wir ein Penalty-Shootout.
André Henning, Hockey-Bundestrainer Männer

Sportschau: Sie sind beide Trainer, die auf Eigenverantwortung und viel Autonomie ihrer Teams setzen, was macht Ihre Mannschaften aus?

Altenburg: Das Streben danach, ganz nach oben zu kommen, auch jetzt bei der EM. Die Spielerinnen übernehmen selbst viel Verantwortung für das Gelingen, haben sich eigene Standards gesetzt und wissen genau, was sie wollen. Dieses Team kann richtig gutes offensives Hockey spielen und damit erfolgreich sein.

Und neben dem Platz ist das eine Mannschaft, die sich für Nachhaltigkeit in verschiedenster Hinsicht einsetzt. Sei es, dass sie sich um CO2-Flugkompensationen bemühen, indem sie Bäume in ihrem eigenen Wald pflanzen oder innerhalb des Teams kein Plastik unnötig verbraucht wird. Der Mannschaft ist es außerdem ein großes Bedürfnis, eine neue Generation für Frauen-Hockey zu begeistern.

Valentin Altenburg, Hockey-Trainer der Frauen-Nationalmannschaft
Valentin Altenburg, Bundestrainer Hockey-Frauen
- 42 Jahre alt
- seit Januar 2022 Cheftrainer der deutschen Hockey-Frauen
- 2016 gewann er als Interims-Bundestrainer der Männer bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro Bronze

Henning: Es gibt einen wahnsinnig heterogenen Mix an Persönlichkeiten und den wollen wir unbedingt stark bedienen und in Anspruch nehmen. Wir haben ganz viele unterschiedliche Intelligenzen im Team. Ich glaube, das ist einer unserer größten Vorteile gegenüber der Konkurrenz: Neben Spielintelligenz haben wir eine krasse emotionale und soziale Kompetenz in dieser Mannschaft. Wir haben also nicht nur Hockey-Experten, sondern auch Experten für Kommunikation oder Kooperation im Team. Dementsprechend ist die Mannschaft an vielen Entscheidungsprozessen beteiligt. Neben dem Platz entscheidet sie sehr viel, auf dem Platz alles.

Spielerisch ist es eine Crunchtime-Mannschaft. Das ist eine mentale Stärke. Es gibt einen Kernsatz für uns: Unser schlechtester Tag und unser schlechtestes Spiel geht immer mindestens unentschieden aus und dann gewinnen wir ein Penalty-Shootout.

Sportschau: Bei der EM spielen insgesamt acht Teams um den jeweiligen Titel. Wer sind für Sie die stärksten Gegner?

Altenburg: In unserer Gruppe gibt es da Irland als Vizeweltmeister mit einem unorthodoxen Spielstil und die Mannschaft aus England, die einen unglaublichen Kampfgeist und Qualität hat. Beide Teams sowie auch Schottland wollen über eine defensive Kompaktheit ins Kontern kommen.

Die andere Gruppe hat mit den Niederlanden und Belgien eine große spielerische und offensive Qualität. Die Niederländerinnen sind mit großem Abstand der Favorit auf den Titel. Die Mannschaften sind aber alle so gut, dass wir eine Sternstunde brauchen.

Henning: Die Niederlande sind aktuell das formstärkste Team. Für niederländische Mannschaften ist es üblich, sehr offensives, technisch sehr versiertes Hockey zu spielen. Aber unter ihrem neuen Staff sind sie viel "deutscher" geworden in ihrer Spielweise. Heißt, sie spielen disziplinierter und machen weniger Fehler. Dementsprechend sind sie echt schwer zu knacken.

Belgien ist im Gesamtpaket wahrscheinlich das bestbesetzte Team. Sie sind super erfahren und spielen seit zehn Jahren auf einem Top-Niveau. Sie werden nochmal sehr hungrig sein, gerade jetzt nach der nicht gewonnenen Weltmeisterschaft.

Das Team, das gerade den steilsten Aufstieg gemacht hat, ist England. Ich glaube, wenn wir das Spiel gegen England im WM-Viertelfinale nicht gedreht hätten, dann wären sie auch ein heißer Kandidat auf einen Titel gewesen. Aber auch Spanien hat ein junges Team, mit dem zu rechnen ist. Es wird ein spannendes Turnier: Jedes Halbfinale könnte ein potenzielles Olympia-Finale sein.

Sportschau: Wie wird Deutschland bei dem Heimturnier Europameister?

Altenburg: Wenn wir auf die Vergangenheit oder die Statistik gucken, dann werden wir kein Europameister. Davon haben wir uns gelöst. Wir werden daran arbeiten, unser Spiel durchzusetzen und werden jedes Spiel neu spielen. Wir können uns und andere überraschen. Wir sind eingespielt und wir werden, sobald sich eine Chance ergibt, zuschlagen. Ich bin der Überzeugung, dass diese Mannschaft in jedem Spiel gegen jede Mannschaft gewinnen kann.

Die Hockey-Nationalmannschaft der Männer jubelt über den WM-Titel im Frühjahr 2023

Henning: Unsere Mannschaft hat eine große Vielfältigkeit. Wir sind nicht auf die Tagesform von zwei, drei Spielern angewiesen, sondern wir können uns gegenseitig auffangen. Wir sind in vielerlei Hinsicht eine sehr flexibel und variabel aufgestellte Mannschaft und sind dementsprechend reaktionsfähig.

Das Team zeigt seit Jahren immer wieder, was für eine unglaubliche Qualität in ihm steckt. Es war ja nie ein Problem von mangelnder Hockey-Qualität, bevor es mit dem WM-Titel geklappt hat. Wir haben jetzt gezeigt, wenn der Mix aus Hockey-Qualität und Wettkampf-Stabilität am selben Tag zusammenkommt, dann sind wir schwer zu besiegen.