Cristiano Ronaldo (2.v.r.) strahlt dank seiner Mitspieler.
analyse

Superstar ein Fremdkörper? Portugal lässt Ronaldo glänzen - nicht umgekehrt

Stand: 22.06.2024 21:58 Uhr

Portugal startet nach perfekter Qualifikation auch perfekt ins EM-Turnier - doch der Superstar ist nicht der Grund dafür. Cristiano Ronaldo ist Nutznießer der Stärke der "Seleção".

Von Sebastian Hochrainer, Dortmund

Seit Roberto Martínez im Anschluss an die Katar-WM den Trainerjob bei der portugiesischen Nationalmannschaft übernommen hat, ist sie in Pflichtspielen nicht aufzuhalten. Erst die perfekte Qualifikation mit zehn Siegen in zehn Spielen und nun zwei EM-Erfolge (2:1 gegen Tschechien und 3:0 gegen die Türkei) zum Auftakt. Portugal steht auch deshalb in der Liste der Titelfavoriten ganz oben. Aber eine Sache ist grundlegend anders.

Cristiano Ronaldos Spiel fehlt der Glanz

Um erfolgreich zu sein, hatte die "Seleção" in den vergangenen Jahren ihren Superstar in Topform gebraucht. Cristiano Ronaldo war stets der entscheidende Mann, seine Tore brachten die Erfolge - auch wenn er beim EM-Titel 2016 im Finale sehr früh verletzt ausgewechselt werden musste. Doch der große Glanz ist seinem Spiel entwichen, stattdessen aber überzeugen seine Mitspieler - und helfen damit Ronaldo.

Kanté entgeht Saudi-Diskussion - Ronaldo nicht

In der 15. Minute blitzte sein individuelles Können einmal kurz auf. Doppelter Übersteiger, der Gegenspieler plumpste nach der Körpertäuschung zu Boden, gute Flanke - doch ansonsten konnte "CR7" auch im zweiten Gruppenspiel der portugiesischen Nationalmannschaft am Ball nicht überzeugen. Die ernüchternden Zahlen: nur 14 angekommene Pässe, 9,21 Kilometer Laufleistung (beides Tiefstwert unter den Dauerspielern), nur einer von vier Torschüssen ging aufs Tor.

Anders als sein Ligakonkurrent N'Golo Kanté, der bei den Franzosen zweimal zum besten Spieler des Matches gewählt wurde, hat Ronaldo die These, dass sein Wechsel nach Saudi-Arabien nicht gerade zuträglich war, noch nicht widerlegen können. Die Kameras sind nach wie vor alle auf ihn gerichtet, die Bälle kommen aber längst nicht mehr alle zu ihm. Und wenn, dann macht er nicht ganz so viel daraus.

Türkei gegen Portugal - die Stimmen

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Ronaldo noch wie ein Fremdkörper

Die beiden Tore in der ersten Halbzeit waren perfekte Beispiele. Das 1:0 leitete Nuno Mendes mit einer flachen Flanke ein, die Ronaldo verwerten wollte. Er stolperte aber beim Versuch, den Ball zu erreichen und ging zu Boden - Bernardo Silva übernahm dann seinen Job.

Beim 2:0 gab es ein Missverständnis zwischen João Cancelo und Ronaldo, der seinen tiefen Lauf zur Überraschung seines Kollegen abgebrochen hatte. Die türkische Defensive schoss dann für ihn das Tor.

Ein weiterer Beleg: als Silva seinen Mittelstürmer in der 66. Minute perfekt bediente, bekam der den Ball mit seinem Kopf nicht aufs Tor - sondern beförderte ihn parallel zum gegnerischen Gehäuse zu einem türkischen Verteidiger. Früher wäre das ganz sicher ein Treffer gewesen.

Beide EM-Spiele über die volle Zeit

Martínez' Vorgänger Fernando Santos hatte bei der vergangenen WM allen Mut zusammengefasst und den portugiesischen Superstar ins zweite Glied und auf die Bank beordert - der aktuelle Trainer setzte bislang bedingungslos auf den 39-Jährigen, der bei der EM beide Partien über die volle Distanz spielen durfte. Die Ergebnisse geben ihm recht, aber Ronaldo könnte in der Form ein Problem werden.

Ronaldo, der Tor-Gönner

Doch bei so viel Klasse um ihn herum, reichte die lange Spielzeit immerhin aus, um einem strauchelnden Ronaldo zu helfen, Hauptakteur einer Jubeltraube zu sein. Ein toller langer Ball von Ruben Dias schickte "CR7" frei vors Tor und der legte quer auf Bruno Fernandes, der zum 3:0 ins leere Tor einschieben durfte. Alls Spieler rannten darauf zu Ronaldo, nicht zum Torschützen, und feierten ihn.

Und auch sein Trainer. "Es ist spektakulär, Cristiano zu haben. Er ist ein Torjäger, und dann steht er alleine vor dem Tor und legt den Ball quer auf Bruno Fernandes. Ein toller Moment für den portugiesischen Fußball und den Fußball generell. Diese Szene sollte überall gezeigt werden, denn sie zeigt, dass das Team immer wichtiger ist als jedes selbst geschossene Tor", sagte Martínez.

Ronaldo, der Fan-Kümmerer

Kurz nach dem Assist, der ihn zum besten Vorbereiter der EM-Geschichte machte, zeigte er ebenfalls Größe, als ein junger Fan die Ordner im Dortmunder Stadion überwinden konnte und mit seinem Handy in der Hand auf Ronaldo zustürmte. Der erwartete den mit roter Jacke gekleideten Jungen bereits mit einem strahlenden Lächeln und offenen Armen, blieb für ein Selfie stehen. Es wird ein Moment sein, der dem Kind Weltruhm beschert, und für Ronaldo war es eine ideale Gelegenheit, um von sportlichen Ungereimtheiten abzulenken.

Cristiano Ronaldo macht ein Selfie mit einem Fan.

Cristiano Ronaldo macht ein Selfie mit einem Fan.

So ist der Superstar der großzügige Fan-Kümmerer (auch wenn er bei den folgenden Flitzern verständlicherweise genervt reagierte) und Tor-Gönner. Er ist es allerdings auch seinen Kollegen und den Menschen, die ihm auf den Rängen noch immer zujubeln, schuldig. Denn anders als in der Vergangenheit, tragen sie jetzt ihn - und nicht mehr er sie.