"Caravaggio" Spalletti Neapels Titelgewinn als Meisterwerk
Mit dem 1:1-Unentschieden in Udine hat die SSC Neapel am Donnerstag (04.05.2023) den Meistertitel in der Serie A perfekt gemacht. Der Architekt des Erfolgs: Trainer Luciano Spalletti.
Das Warten hat sich gelohnt. Findet Luciano Spalletti. Der Gewinn des Meistertitels, hat der Trainer der SSC Neapel in den vergangenen Tagen durchblicken lassen, ist für ihn auch persönliche Genugtuung.
Weil er ein Etikett abstreifen kann, das ihm in Italien über Jahre anhing. "Immer wieder hat man betont, dass ich es nicht geschafft habe, den Titel zu gewinnen", sagte der 64-Jährige und fügte hinzu: "Wenn diese Wartezeit aber der Preis gewesen sein sollte, um jetzt mit Neapel zu gewinnen, dann ist es dies wert gewesen."
Spalletti formt Neapels Team
Die Meisterschaft Neapels ist eine der überraschendsten Geschichten des italienischen Fußballs der vergangenen Jahrzehnte. Aus mäßig bekannten Spielern und mit kleinem Etat formte Spalletti ein Team, das in der Serie A und der Champions League über Monate unschlagbar war – und eine Stadt, die unter vielen sozialen Problemen leidet, in einen Freudenrausch versetzt hat.
Ausgerechnet das arme Neapel bricht die in Italien über zwei Jahrzehnte dauernde Dominanz der reichen Klubs aus Turin und Mailand. "Diese Meisterschaft ist vor allem das Verdienst Luciano Spallettis", lobt nicht nur der Kapitän der Weltmeistermannschaft von 2006 und gebürtige Neapolitaner Fabio Cannavaro.
Stanislav Lobotka vom SSC Neapel im Zweikampf mit vollem Körpereinsatz.
Spalletti wie Caravaggio
Von der Lokalkonkurrenz kommt die vielleicht schönste Hommage an den Späterfolgreichen. Walter Sabatini, bis zum Sommer Sportdirektor bei Salernitana und mit seinen 68 Jahren eine Art Doyen der italienischen Fußballmanager, nennt Spalletti "Autor eines Meisterwerks".
Der Titelgewinn Neapels sei angesichts der Voraussetzungen "fast surreal". Aber, erinnert Sabatini, Spalletti habe schon in seinen Zeiten bei der AS Rom und Inter Mailand "das Maximum aus den dortigen Bedingungen gemacht" und "der Schönheit des Fußballs gehuldigt". Jetzt in Neapel aber, sagt der erfahrene Sportdirektor, habe es Spalletti "wie Caravaggio geschafft, ein perfektes Werk zu malen".
Wie der geniale und rebellische Meistermaler des Barocks gilt auch der vor den Toren von Florenz geborene Trainer als eigenwillig und konfliktfreudig. Wie Caravaggio in der Kunst steht Spalletti im italienischen Fußball für einen neuen, mutigen Stil. Und wie Caravaggio hat sich Neapels Meistertrainer lange hocharbeiten und auf Anerkennung warten müssen.
Spalletti "ist taktisch ein Genie"
In der Öffentlichkeit wohlgemerkt, nicht bei seinen Spielern. Deren Huldigungen gehen schon seit vielen Jahren über die branchenüblichen Freundlichkeiten hinaus. Der ehemalige niederländische Nationalspieler Kevin Strootman erinnert die gemeinsame Zeit bei der AS Rom als eine der lehrreichsten seiner Karriere: "Spalletti ist taktisch ein Genie. Die Trainingseinheiten bei ihm waren vom Kopf anstrengender als die Spiele."
Ähnlich verzückt äußerte sich Neapels Torjäger Victor Osimhen in einem Interview mit "France Football": "Spalletti ist ein Genie. Und ihr habt noch nicht alles gesehen! An dem Tag, an dem wir 99 Prozent von dem umsetzen, was er uns lehrt, werden wir jede andere Mannschaft zerstören, die uns gegenübersteht."
Antonio Cassano, das Enfant terrible des italienischen Fußballs, das seine beste Zeit unter Spalletti in Rom hatte, fällt ebenfalls kein anderes Etikett ein: "Spalletti ist ein Genie. Was er mit Neapel geschafft hat, ist ein sportliches Wunder." Und Pep Guardiola adelte Spallettis Fußball als, "was den Spielstil anbelangt", derzeit besten in Europa.
Langer Weg an die Spitze
Begonnen hat die Karriere des jetzt Vielgelobten vor fast genau 30 Jahren. Im Sommer 1993 wechselte Spalletti in Empoli am Ende seiner bescheidenen Karriere als Mittelfeldrenner in der Serie C1 auf den Stuhl eines Nachwuchstrainers des Vereins. Bereits ein paar Monate später wurde er in der Not zum Interims-Chefcoach der Profimannschaft befördert, schaffte den Klassenerhalt und führte Empoli im Durchmarsch in die Serie A.
Der Trainernovize war plötzlich auf der großen Bühne, die er in seiner aktiven Zeit nur aus dem Fernsehen kannte. Im standesbewussten italienischen Fußball der 1990er Jahre schlug dem Newcomer aus der Provinz viel Skepsis entgegen.
Mittlerweile hat Spalletti den Spieß umgedreht, er pflegt sein Image als sozialer und sportlicher Aufsteiger. "Ich bin nie erste Klasse mit Fensterplatz gereist, sondern immer getrampt", umschreibt Neapels Coach mit dem für ihn typischen Pathos seinen Werdegang als Trainer. Er habe einen schwierigeren Weg hinter sich als seine Kollegen, die bereits als Fußballer erfolgreich waren. Der Meistertitel, sagt Spalletti, belohne nun "für alle gebrachten Opfer".
Soziale Botschaft am Spielfeldrand
Sein Auftreten am Spielfeldrand ist für Spalletti Teil einer sozialen Botschaft, die Wahl seiner Kleidung kein Zufall. In volkstümlicher Wortwahl erklärt der Trainer: Manchmal werde er dafür "verarscht", dass er am Spielfeldrand in Fußballschuhen und Trainingsanzug herumlaufe, auch in der Champions League.
Aber, meinte Spalletti, "ich weiß, was ich dafür tun musste, um diese Fußballschuhe zu haben. Als Kind habe ich sie mir nicht leisten können." Spalletti verehrt seinen früh verstorbenen Vater, der als Jagdhelfer, Freizeitbauer und Lagerarbeiter seine Familie durchgebracht hat.
Neapels Trainer Luciano Spalletti am Spielfeldrand
Vor dem Hintergrund seines sozialen Aufstiegs ("im Leben bekommt man nichts geschenkt") hat der Meistertrainer auch Sendungsbewusstsein über den Fußballplatz hinaus. Junge SSC-Neapel-Fans bekamen das vor kurzem zu spüren. Am Trainingsgelände stellte der Coach jugendliche Anhänger zur Rede und fragte, warum sie denn dort und nicht in der Schule seien.
Die Botschaft: Geht lernen, statt Fußballstars anzuhimmeln. Außenverteidiger Giovanni Di Lorenzo habe er zum Kapitän gemacht, sagt Spalletti, weil dieser "von allen Spielern das beste Zeugnis hat". Erziehungsbotschaften in einer Stadt, in der immer noch Jugendliche ohne Perspektive darauf hoffen, Karriere bei der Camorra, der örtlichen Mafia-Organisation, zu machen.
Weingut als Rückzugsort von Spalletti
Spalletti selbst wohnt in Neapel in einem Ein-Zimmer-Apartment auf dem vereinseigenen Trainingsgelände Castel Volturno. Auch hier ist er ein Unikum unter den europäischen Toptrainern. "Ein Eremiten-Dasein für die Meisterschaft", schreibt der "Corriere dello Sport". An freien Tagen allerdings zieht es Spalletti zu seiner Frau und seinen drei Kindern in seine Heimat Toskana.
Ein großes Weingut im Chianti, das er sich mit seinen im Fußball verdienten Millionen gekauft hat, dient Spalletti als Rückzugsort. Sein dort angebauter Rotwein "Bordocampo" (Seitenlinie) bekommt in Internetportalen positive Bewertungen. Er soll auch für besondere Gelegenheiten geeignet sein. Zum Beispiel, um auf eine Meisterschaft anzustoßen.