Erst Platzsturm, nun Relegation HSV und Wehen - vereint in Schmerz und Trotz
Der Hamburger SV und der SV Wehen Wiesbaden feierten am vergangenen Wochenende schon mit ihren Fans den Aufstieg. Dann kam der große Schock - und nun gibt es den nächsten Anlauf in der Relegation.
Die Fans des Hamburger SV und des SV Wehen Wiesbaden schauten am vergangenen Wochenende nicht nur darauf, was ihr eigenes Team auf dem Platz veranstaltete, sondern gleichzeitig auch auf ihr Smartphone, um immer darüber informiert zu sein, was die jeweilige Konkurrenz macht. In den Aufstiegsrennen der 2. und 3. Liga mussten beide Klubs gewinnen und zeitgleich auf Patzer des 1. FC Heidenheim und VfL Osnabrück hoffen.
Sie jubelten über die eigenen Tore - und fast noch mehr über die Gegentreffer der beiden anderen Klubs. Heidenheim und Osnabrück lagen nach 90 Minuten zurück und für Fans des HSV und des SVWW war klar: Wir sind aufgestiegen! Daran sieht man, wie sehr Emotionen einen Menschen beeinflussen. Die gleichen Personen, die Sekunden vorher noch angstvoll auf ihr Smartphone starrten, vergaßen plötzlich, dass Heidenheim und Osnabrück noch mehrere Minuten vor sich hatten. Deren Abpfiff hätte es jeweils eigentlich schon noch gebraucht, um den Aufstieg unter Dach und Fach zu bringen.
Hinspiel | Rückspiel | |
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Bundesliga - 2. Bundesliga | 01.06. Vfb Stuttgart - Hamburger SV | 05.06. Hamburger SV - VfB Stuttgart |
2. Bundesliga - 3. Bundesliga | 02.06. SV Wehen Wiesbaden - DSC Arminia Bielefeld | 06.06. DSC Arminia Bielefeld - SV Wehen Wiesbaden |
Zerplatzte Träume in weniger als 24 Stunden
Am Samstag (27.05.2023) wollten die Wehen-Fans darauf aber nicht mehr warten, sprinteten auf das Spielfeld, feierten mit ihren Helden und schnappten sich Souvenirs in Form von Tornetzen oder Ähnlichem. Wenig später dann der große Fall. Osnabrück glich in der dritten Minute der Nachspielzeit aus, traf in der 96. Minute zum Sieg - und stieg selbst auf.
Ein warnendes Beispiel für andere? Eigentlich schon, wenn da nicht wieder die Emotionen ins Spiel kämen. Einen Tag später kamen die HSV-Fans in die gleiche Bredouille - und auch sie vergaßen völlig, dass in Heidenheim noch etwas passieren konnte. Und es passierte. Nur 26 Stunden, nachdem von einer auf die andere Sekunde die Feierlichkeiten in Wiesbaden aufhörten, wurde auch in Sandhausen der Hamburger Jubel zerstört.
Walter kann noch immer erster Aufstiegstrainer werden
So dramatisch diese Erfahrung für die beiden Vereine war - es gibt eine gute Nachricht: Sie können noch immer aufsteigen. Der HSV und Wehen bekommen in der Relegation doch noch die Chance, den Sprung in die Bundesliga bzw. 2. Liga zu schaffen. Die Frage ist nur: Wie groß ist der Schaden dieses tiefen Falls von Glückseligkeit ins Tal der Tränen?
"Wir haben vorher schon gewusst, dass wir diesen Weg gehen könnten. Und das müssen wir jetzt", sagte Tim Walter, der nun gegen sein Ex-Klub VfB Stuttgart der erste Aufstiegstrainer der HSV-Geschichte seit Einführung der Bundesliga 1963 werden will. Sportvorstand Jonas Boldt wandte sich noch in Sandhausen sogar über das Stadionmikrofon an die Fans. "Leider gehört das zum Sport dazu. Bündelt alle Kräfte. Das Ding ist noch nicht zu Ende. Wenn wir das alles nochmal in die Waagschale legen nächste Woche, dann ziehen wir das halt mit einer Extra-Runde durch", sagte er.
Boldt will Veränderungen
Boldt schwirrte aber noch eine andere Sache im Kopf herum. Ihn scheint diese Art des Gefechts um den letzten Platz in der Bundesliga zu stören. Zumal der Zweitligist der Tradition wegen der klare Underdog ist, erst dreimal ging aus der Relegation ein Aufsteiger in die Bundesliga hervor. "Von der Statistik her hat der Erstligist natürlich sehr, sehr viele Vorteile", sagte Boldt. "Es wäre vielleicht auch mal eine Idee, das zu überdenken und die drei Plätze komplett anders auszuloten, denn es kann ja nicht im Sinne sein, dass es dann immer der Erstligist ist."
Wehen macht die Statistik dagegen Mut
In Wehen dagegen dürfte der Blick auf die Vergangenheit durchaus lohnenswert sein. Denn in der Relegation um den Aufstieg in die 2. Liga ist das Bild ganz anders. In zehn von 14 Fällen behielt der Drittligist die Oberhand. Ein Grund dafür: In der "großen" Relegation gibt es meist auch große finanzielle Unterschiede, je tiefer die Klasse desto niedriger ist auch die Kluft und entsprechend größer die Chance für das Team, das etwas gewinnen kann.
Fraglich ist nur, ob Wehen diese Sicht schon hat. Denn sie haben schon etwas verloren, sie feierten schließlich schon den Einzug in die 2. Liga. Ihnen wurde schon etwas entrissen, während Relegationsgegner Arminia Bielefeld wenigstens diese ganz große Enttäuschung noch nicht erlebt hat. Gelingt es Wehen jedoch, alle Emotionen auf null zu stellen, können sie nach den beiden Spielen nur etwas gewinnen und Bielefeld nur etwas verlieren.
"Wir müssen jetzt den Kopf klar bekommen und ab Montag den vollen Fokus darauf legen. Genau mit dieser Leidenschaft gehen wir die Spiele nun an, dann werden wir sie positiv bestreiten", sagte Co-Trainer Nils Döring, der im letzten Saisonspiel den gesperrten Chefcoach Markus Kauczinski vertrat.
Psychologe: Resilienz und Akzeptanz sind jetzt gefragt
Doch ist das nach diesen Erlebnissen überhaupt so schnell möglich? "Grundsätzlich schon", sagt Psychologe Thomas Graw, der schon als Mentaltrainer beim VfL Bochum und der österreichischen Nationalmannschaft arbeitete, im Sportschau-Gespräch. "Aber dafür bedarf es einer großen Resilienz. Jeder einzelne muss das wegstecken und dann hat man auch als gesamtes Team die Chance, in eine andere Stimmung zu kommen. Man muss die Relegation sehen und nicht als Strafe."
Und Graw wüsste auch, wie er das den Spielern beibringen würde. "Mein Ansatz wäre, ihnen zu sagen, dass zum Sport dazugehört, solche Herausforderungen anzugehen und Frust wegzustecken. Man muss als Sportler eine solche Akzeptanz entwickeln und wissen, dass das nächste Spiel überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was passiert ist", so der Psychologe. Bald wird sich zeigen, wie gut der HSV und Wehen das schaffen.