"No Limits": ARD-Film zu Überlastung im Fußball Druck, Schmerzmittel, Doping - Das Pillen-Problem im Milliarden-Business
Die Belastung im Fußball steigt immer weiter. Spieler schlagen Alarm und greifen regelmäßig zu Schmerzmitteln. Bei der WM dürfen sie sogar eine stark abhängig machende Substanz nutzen, die selbst die WADA als leistungssteigernd einstuft.
Es klang fast so, als wollte sich Kim Jin-Su rechtfertigen. "Ich bin nicht der Einzige, der Schmerzmittel nimmt", sagte der abgekämpfte Südkoreaner: "Es gibt niemanden hier, der schmerzfrei ist." Sätze wie dieser, gefallen nach dem 0:0 gegen Uruguay in der WM-Vorrunde in Katar, gehören im Fußball längst zur Tagesordnung.
Immer mehr Spiele und immer höhere Intensität treiben die Profis an ihre Belastungsgrenze. Und die Wüsten-WM zur Winterzeit wirkt für die WM-Teilnehmer wie ein Brandbeschleuniger. Die ARD-Dokumentation "No Limits – Wenn der Fußball keine Grenzen kennt" aus der Reihe "Geheimsache Doping" beleuchtet, wie sehr diese Problematik die Profis in Graubereiche des Milliardengeschäfts Fußball drängen kann.
Höhere Intensität, mehr Verletzungen
"Ladies and Gentlemen, FIFA, UEFA: Stop!", rief Jürgen Klopp kurz vor dem Start der WM während einer Pressekonferenz fast flehend in die Kameras. Wie der deutsche Teammanager des FC Liverpool wählten zuletzt immer mehr Trainer und Spieler mit Blick auf die ausufernde Belastung drastische Worte.
Untersuchungen unterstreichen die Hilferufe. Laut des Verletzten-Index der internationalen Howden-Versicherungsgruppe gibt es in den fünf europäischen Top-Ligen England, Deutschland, Italien, Spanien und Frankreich insgesamt immer mehr Verletzungen. In der vergangenen Saison stieg die Zahl auf 4.042 Verletzungen mit mindestens zwei Ausfalltagen und lag damit um mehr als 20 Prozent über der von 2019/20.
Auch die Intensität auf dem Platz steigt weiter. Der französische Datenprovider SkillCorner, der nach eigenen Angaben mit mehr als 70 europäischen Profiklubs zusammenarbeitet, hat im Auftrag der ARD-Dopingredaktion spezifische Trackingdaten ermittelt und festgestellt: In den vergangenen vier Jahren ist in den fünf europäischen Topligen im Schnitt die Anzahl der schnellen Läufe (mehr als 20 km/h) und der Sprints (mehr als 25 km/h) pro Spiel gestiegen. Jeder zweite Spieler bei der WM in Katar verdient sein Geld in Deutschland, England, Italien, Spanien oder Frankreich.
Es gibt keine belastbaren Zahlen, ob die wachsende Belastung auch den Dopingmissbrauch im Fußball forciert, etwa mit anabolen Steroiden, die bei Verletzungen die Regeneration beschleunigen können. Zwischen 2013 und 2019 verzeichnete die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA im Fußball weltweit 567 Dopingfälle - im Schnitt alle viereinhalb Tage einen. Die Zahlen ab 2020 hat die WADA bislang nicht veröffentlicht.
Spieler haben keine Priorität
Es ist niemand in Sicht, der konkrete Maßnahmen gegen die ausufernde Belastung ins Auge fasst. Der ehemalige UEFA-Generalsekretär Lars-Christer Olsson, der 2021 seine Karriere als Fußball-Funktionär nach über 30 Jahren beendet hat, sagte der ARD: "Wir haben natürlich über den vollen internationalen Kalender diskutiert." Er könne aber nicht sagen, "dass wir die Gesundheit der Spieler ganz oben auf der Tagesordnung hatten, um ehrlich zu sein".
Druck aus der Szene bekommen große Verbände wie UEFA und FIFA, die mit immer mehr Wettbewerben auf Kosten der Spieler immer mehr Millionen scheffeln, kaum. Auch die deutsche Spielergewerkschaft VDV bleibt zurückhaltend. "Wir fordern erst mal gar nichts", sagte VDV-Vizepräsident Carsten Ramelow, der Vize-Weltmeister von 2002. Es gehe um einen "fairen Interessenausgleich", über den man reden müsse.
DFB-interne Kritik an Bierhoff
Eine Folge der sich immer schneller drehenden Spirale aus Intensität, Belastung und Druck: Spieler greifen zu Schmerzmitteln. FIFA-Studien bei den Weltmeisterschaften zwischen 2002 und 2018 zeigen eine "alarmierende Häufigkeit" beim Schmerzmittelgebrauch. Toni Graf-Baumann, Mitglied der Anti-Doping-Kommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), sagte im Gespräch mit der ARD-Dopingredaktion, es gebe "keinerlei Anhaltspunkte", dass sich daran bis heute etwas geändert habe.
Es gehe um zu viel Geld, und die Interessen seien verschieden gelagert - offenbar auch im DFB. Graf-Baumann attestierte DFB-Geschäftsführer Oliver Bierhoff, der im Vorfeld der WM-Endrunde den Zeitpunkt der Austragung in Katar als wenig problematisch eingestuft hatte, "Realitätsferne".
Tramadol: In Katar erlaubt, ab 2024 verboten
Ein Schmerzmittel gerät nun besonders in den Fokus: Tramadol, ein Opioid mit hohem Suchtpotenzial, das laut einer englischen Studie leistungssteigernd wirkt. Die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA hat zudem in ihrem Monitoring-Programm festgestellt, dass Tramadol vor allem in drei Sportarten "erheblich" genutzt werde: Rugby, Radsport – dort hat der Weltverband UCI die Substanz bereits 2019 verboten - und Fußball.
Die WADA reagierte und setzt nun das Mittel, sofern es im Wettkampf gebraucht wird, auf die Dopingliste - allerdings erst ab 2024. Das bedeutet: Bei der WM in Katar darf eine leistungssteigernde und stark abhängig machende Substanz zum Einsatz kommen, für deren Nutzung Athletinnen und Athleten in gut einem Jahr eine mehrjährige Sperre erhalten werden.
Für Olivier Rabin, den wissenschaftlichen Direktor der WADA, kein Problem: "Wir nehmen uns ein bisschen Zeit, Tramadol in die Verbotsliste aufzunehmen, weil wir ein paar Formalitäten haben." Man müsse sicherstellen, dass "überall auf der Welt in gleicher Form auf Tramadol getestet wird".
2.000 Tramadol-Pillen in Katar
Vor allem in der Premier League wurden zuletzt Forderungen laut, Tramadol sofort zu verbieten. Die englische Spielergewerkschaft PFA berichtet von zahlreichen Profis, die von dem Opioid abhängig geworden seien. Das habe zu "Riesenproblemen während und nach der Fußballer-Karriere" geführt. Die PFA bietet betroffenen Profis sogar ein Hilfsprogramm an.
Auch in Katar war Tramadol schon ein Thema. Am zweiten WM-Tag gab der katarische Zoll bekannt, dass am Flughafen in Doha ein Mann festgenommen worden sei - mit fast 2.000 Tramadol-Pillen im Gepäck. Eine ARD-Anfrage zu einem möglichen Zusammenhang mit der WM ließ die Behörde unbeantwortet. Auch die FIFA reagierte auf Fragen zu Tramadol nicht. Warum sie das Mittel nicht wie die UCI längst verboten hat – unklar.
Die WADA nennt keine genauen Zahlen zur Häufigkeit der Tramadol-Nutzung. Sie verweist darauf, dass sie nur die nationalen Anti-Doping-Agenturen über genaue Ergebnisse der Monitoring-Phase informiert. Laut einem internen Papier, das der ARD-Dopingredaktion vorliegt, wurde 2018 in 163 Fußballerproben Tramadol entdeckt.
"Eigentlich Doping"
Geht es nach Insidern, kann der verschärfte Umgang mit Tramadol nur der Anfang einer Entwicklung sein. "Für mich wäre wünschenswert, dass die leichteren Schmerzmittel wie Ibuprofen, Diclofenac oder auch Arcoxia genauso behandelt werden wie Tramadol", sagt Thomas Frölich, Mannschaftsarzt der TSG Hoffenheim und seit mehr als zwei Jahrzehnten im Geschäft. Nach seiner Erfahrung werden gängige Schmerzmittel im Fußball häufig dermaßen intensiv genutzt, dass auch sie einen leistungssteigernden Effekt bekommen. Und diese Nutzung, so Frölich, sei "eigentlich Doping".