Pure Freude in Mainz: Das Hochgefühl elektrisiert einen ganzen Standort
analyse

Verfolgerduell der Bundesliga 1. FSV Mainz 05 mausert sich zum Europapokalanwärter

Stand: 13.01.2025 21:53 Uhr

Sechs der letzten sieben Bundesligaspiele hat der 1. FSV Mainz 05 gewonnen. Nun tritt die Mannschaft der Stunde am Dienstag zur Reifeprüfung bei Bayer Leverkusen an.

Auf dem Zuweg zur Heimstätte des 1. FSV Mainz 05 sollte sich am vergangenen Samstag (11.01.2025) vor dem Heimspiel gegen den VfL Bochum (2:0) plötzlich ein kleiner Engpass bilden. Besonders viele Menschen wollten vor den fast mannshohen Insignien M05 mit der Mainzer Arena im Hintergrund noch ein Foto machen.

Vielleicht kein Zufall in einer Phase, die für den bundesweit oft in der Fußball-Bundesliga unter dem Radar spielenden Verein gerade einem Glücksfall gleichen muss. Mainz 05 stellt vor dem letzten Hinrundenspieltag die Mannschaft der Stunde: Sechs der letzten sieben Spiele haben die Nullfünfer gewonnen, die passenderweise als Tabellenfünfter zum Bayern-Verfolger Bayer Leverkusen (Dienstag 20.30 Uhr) reisen.

Ex-Leverkusener Nadiem Amiri noch gesperrt

Dumm nur, dass mit Nadiem Amiri der fußballerisch stärkste Mainzer wegen seiner Rotsperre aus dem Frankfurt-Spiel fehlt. Der vor einem Jahr aus Leverkusen gekommene Mittelfeldspieler ist das eigentliche Herzstück bei den Rheinhessen - sein Transfer stand exemplarisch für die gute Geschäftsbeziehung der beiden Klubs. Leverkusen stand zum Jahresende auf der Kandidatenliste bei der Sportlerwahl zur "Mannschaft des Jahres 2024", ehe Bayer-Sportdirektor Simon Rolfes dann im Kurhaus von Baden-Baden mal wieder eine Auszeichnung als Zweiter empfing.

Die 3x3-Basketballerinnen hatten sich durch ihren sensationellen Olympiasieg mehr Stimmen verdient. Mainz hätte im Windschatten der Werkself für den deutschen Fußball die Auszeichnung als "heimliche Mannschaft des Jahres" verdient gehabt, heißt es oft. Eine Begrifflichkeit, die Sportvorstand Christian Heidel gefiel. "So ein Jahr hinzulegen, ist auch für uns überraschend", sagte der Macher bereits vor dem Jahreswechsel zur Metamorphose vom Abstiegskandidaten zum Europapokalanwärter.

Der 61-Jährige kann sich gerade "nicht an viele bessere Jahre" für seinen Herzensverein erinnern. Ein solide geführter Klub aus dem Mittelstand hat eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen, die sogar einen Trainer-Routinier wie Dieter Hecking schwer beeindruckt hat: "Mainz ist sehr gut gegen den Ball und auch mit Ball gut unterwegs." Selbst Teams wie Bayern München oder Borussia Dortmund hätten gegen diesen Gegner kaum Luft zum Atmen bekommen, tröstete sich der Bochumer Coach über die jüngste Niederlage hinweg.

Beschwingt wie einst die Bruchweg-Boys

Binnen weniger Monate sind fröhliche Mainzer von Rang 13 auf Platz fünf gesprungen - die beste Platzierung seit mehr als zwei Jahren. Inzwischen erinnert vieles an die flotten Bruchweg-Boys, die im Sommer 2010 unter der Trainerentdeckung Thomas Tuchel für bundesweites Aufsehen sorgten.

Luca Benincasa, Sportschau

Im Mittelpunkt der Huldigungen damals die Überflieger André Schürrle, Lewis Holtby und Adam Szalai, die als mit Pseudo-Schlagzeug und Luftgitarre hantierende Draufgänger die Liga rockten und zeitweise von der Tabellenspitze grüßten.

Bo Henriksen hat fast 50 Prozent Siegquote

Jetzt heißt der Trainer Bo Henriksen, der irgendwie einige Zutaten vereint, mit denen einst Jürgen Klopp zur Kultfigur am Bruchweg aufstieg. Macher Heidel zauberte den Einpeitscher für den selbst ernannten Karnevalsverein mal wieder an den närrischen Tagen aus dem Hut, als höchste Abstiegsnot herrschte. Henriksen hatte beim FC Zürich bemerkenswerte Arbeit geleistet, aber trotzdem hatte den 49-Jährigen niemand auf dem Zettel.

Einpeitscher aus Überzeugung: Bo Henriksen

Einpeitscher aus Überzeugung: Bo Henriksen

Der dritte Däne nach Kasper Hjulmand und Bo Svensson verbucht nach 29 verantworteten Begegnungen eine Siegquote von fast 50 Prozent und einen besseren Punkteschnitt (1,74) als Tuchel (1,41), der zuvor als erfolgreichster Coach in Mainz arbeitete. Wie der als positiv Verrückter titulierte Henriksen lange vor Anpfiff mit geballten Fäusten die Fans vor Heimspielen in Stimmung bringt, hat bereits Kultfaktor.

Mit breiter Brust nach Leverkusen

Dieser Coach hat in der Rückrunde vergangene Saison nur noch zwei Spiele verloren - in München und in Leverkusen. Jetzt reisen die Rheinhessen mit breiter Brust rheinabwärts. "Ich habe eine sehr gute Mannschaft, mein Team und der ganze Verein sind unglaublich", schwärmte Henriksen in der Pressekonferenz vor dem Härtetest beim Doublesieger. "Alles passt zusammen."

Bo Henriksen - "Wenn wir Mut haben, haben wir eine Chance"

Sportschau, 13.01.2025 17:35 Uhr

"Keiner spricht darüber: Jetzt wollen wir in die Champions League", stellte Sportchef Niko Bungert klar. Man werde bestimmt nicht anfangen, "irgendwelche Traumschlösser zu bauen", aber 28 Punkte nach 16 Spieltagen gäben schon mal Ruhe: "Aber nicht in der Weise, dass wir einen Gang rausnehmen, sondern ganz im Gegenteil."

Dominik Kohr will "alles raushauen"

Bungert selbst sorgt mit klaren Ansprachen dafür, dass auch der Übergang auf dieser Position - Martin Schmidt zog sich aus privaten Gründen zurück - recht geräuschlos - erfolgte. "Leverkusen wird uns respektieren", glaubt der als Innenverteidiger unverzichtbare Dominik Kohr. "Wir werden auch Dienstag alles raushauen.“ Das Erfolgsgeheimnis ist für einen weiteren Ex-Leverkusener recht simpel: "Wir finden die richtige Mischung aus Tiefe und Kurzpassspiel."

Wer dieses beschwingte Ensemble nur auf Balleroberung und Umschalten reduziert, macht einen großen Fehler. Davon profitiert insbesondere Stürmer Jonathan Burkardt, der längst nicht nur auf lange Bälle lauern muss. Der Kapitän ist bester deutscher Stürmer, hat zwölf Tore auf dem Konto - und ist mit 24 Jahren bereits der Mainzer Rekordtorschütze in der Bundesliga (35 Treffer). Dass die seit mehr als zehn Jahren in Mainz beheimatete Identifikationsfigur jetzt einen Winterwechsel kategorisch ausschloss, steigert das Hochgefühl noch. "Er liebt den Verein - und wir lieben Jonny!", schwärmte Henriksen.

Auch die Routiniers sind aufgeblüht

Viele Altgediente haben sich unter dem Fußballlehrer mit der wehenden Mähne noch einmal neu erfunden: Torwart Robin Zentner macht mit 30 Jahren kaum noch Fehler, Identifikationsfigur Stefan Bell ist mit 33 wieder Ruhepol in der Mainzer Dreierkette. Vor ihm werden Neuzugang Kaishu Sano und der nach einer Leihe vom Karlsruher SC zurückgekehrte Paul Nebel immer besser.

"Am Anfang konnte ich meine Stärken noch nicht so gut auf dem Platz zeigen. Meine Mitspieler und das Trainerteam haben wir aber sehr dabei geholfen, mich zurechtzufinden", gab der Japaner Sano jetzt zu, der im zentralen Mittelfeld einen ebenfalls gerne unterschätzten Aktivposten gibt. In der Summe kommt somit vieles zusammen, was das Mainzer Hoch erklärt.