Zum Karriere-Ende Eishockey-Profi Reimer - außergewöhnlich, nahbar und legendär
Die Zahlen sind schier unglaublich. 1.069 Spiele, 394 Tore und 858 Punkte. In 20 Jahren Profi-Eishockey für nur zwei Vereine. Düsseldorf und Nürnberg. Patrick Reimer hat zwei Jahrzehnte lang seine Spuren in deutschen und internationalen Eishallen hinterlassen, ohne jemals einen Titel zu holen. Und bekommt dafür jetzt aufrichtigen Applaus. Weil genau das, neben dem ungeheuren Talent und Willen, eine seiner größten Charaktereigenschaften war und ist: Aufrichtigkeit.
Da stand der Mann. Und es war kaum auszumachen, ob er lachte oder nicht, ob er wenigstens schmunzelte. Sein mächtiger Bart versperrte den Blick. Aber es ging ja nicht anders. Alle drei Jahre lassen die Männer aus Mindelheim im Unterallgäu ihre Bärte ins Uferlose wachsen. Seit Generationen schon. Und nun waren eben wieder drei Jahre vorbei. Im Sommer würden Abertausende zum Frundsbergfest kommen, einem der größten historischen Stadtfeste in Deutschland. Und sie würden dann auch den Mindelheimer Patrick Reimer erleben, den außergewöhnlichen Eishockeyspieler. Doch sie würden ihn kaum erkennen, denn als Landsknecht verkleidet war er ja nur einer von 2.000 Kostümierten.
Bloß nicht absteigen
Als Patrick Reimer von Mindelheim und seinen Bärten, von Rittern und Bauernkriegen erzählte, war gerade Weltmeisterschaft. Nürnberg war kurz zuvor erneut nicht deutscher Eishockeymeister geworden, und die deutsche Nationalmannschaft reiste zu den Titelkämpfen nach Prag mit dem festen Vorhaben, den Abstieg aus der A-Gruppe irgendwie zu vermeiden. Der Bundestrainer hieß Pat Cortina und versprach seiner Mannschaft am Abend eine Runde zu schmeißen, wenn sie gegen Kanada wenigstens ein Drittel lang ein Unentschieden hielt.
Patrick Reimer bei seiner Verabschiedung
Die Deutschen verloren mit 0:10, und nichts erinnerte mehr an den Aufbruch unter Bundestrainer Uwe Krupp, der nur fünf Jahre zuvor, ein paar hundert Kilometer südöstlich in Bratislava begonnen hatte. An einem späten Nachmittag im späten April. Gegen Russland. Als sich Patrick Reimer zwei Minuten und 12 Sekunden vor dem Ende vor dem eigenen Tor die Scheibe holte und etwas versuchte, was kaum einem Deutschen je gelungen war.
Das erste Tor des Lebens
Reimer stürmte allein über das gesamte Eis. Durch zwei Russen hindurch, als wären sie nicht mehr als Hologramme. Irrlichternde Attrappen. Reimer zog diagonal davon, kreuzte den russischen Torraum, täuschte, legte den Puck auf die Rückhand und hob ihn elegant ins Netz. Zwischen den russischen Pfosten stand damals kein Geringerer als Torhüter-Veteran Yevgeni Nabokov.
Das hatte es noch nie gegeben
An diesem Tag wurden Grenzen verschoben. Reimers Rückhand bewirkte nicht weniger als ein Eishockey-Wunder. Deutschland gewann mit 2:0. Thomas Greilinger hatte den ersten Treffer erzielt, und auf der Tribüne des Zimný štadión Ondreja Nepelu lagen sich fremde Menschen weinend in den Armen, weil es das noch nie gegeben hatte: einen deutschen WM-Sieg gegen die russischen Eishockeyriesen. Es war, als hätte Boris Becker noch einmal sein erstes Wimbledon gewonnen oder Schumi seinen ersten WM-Titel.
Der nächste Absturz
Doch weil es das deutsche Eishockey ja in den vergangenen 20 Jahren oft geschafft hat, das gerade Geschaffene gleich wieder einzureißen, hielt der Zauber gerade einmal ein Jahr. Im großen Globen von Stockholm stand nun mit Jakob "Köbi" Kölliker ein freundlicher Schweizer als Bundestrainer hinter der deutschen Bande, und hatte nie genügend Worte, um eine sportliche Talfahrt zu erklären, die selbst für das deutsche Eishockey ein gewisses Alleinstellungsmerkmal besaß.
Im Spiel gegen Norwegen schoss Patrick Reimer zwar sein drittes Turniertor. Das Problem war nur: Norwegen führte zu diesem Zeitpunkt schon mit 9:0 und gewann am Ende mit 12:4. Auf den spärlich besetzten Tribünen des Globen lagen sich fremde Menschen weinend in den Armen, weil es so etwas noch nie gegeben hatte. Niemand wäre an diesem verregneten und empfindlichen kühlen Tag Mitte Mai 2012 auf die Idee gekommen, von einem neuen Eishockeymärchen zu träumen.
Südkorea – eine Traumreise
Es war kaum mehr als eine Minute in der Verlängerung gespielt. Und im kleinen Kwandong Hockey Centre von Gangneung herrschte wieder diese eigenartige Atmosphäre, die eher an ein Spaßbad erinnerte als an ein olympisches Eishockeyturnier. Aber so war das eben 2018, als Südkorea auf einmal mit Sportarten konfrontiert wurde, die nicht zu diesem Land gehörten. Jedenfalls spielte Deutschland das Viertelfinale gegen Schweden. Und es stand 2:2, was bereits ein großer Erfolg war, denn die Schweden waren ja der aktuelle Weltmeister.
Doch den Deutschen reichte das nicht. Patrick Reimer erwischte also die Scheibe, zog zum Tor, wo der schwedische Torhüter-Veteran Victor Fasth den ersten Schuss noch hielt, den Nachschuss aber nicht mehr. Und bis heute weiß niemand so richtig, warum dieser erste olympische Treffer von Patrick Reimer minutenlang überprüft werden musste. Vielleicht, weil es nicht vorgesehen war, dass eine deutsche Mannschaft bei Olympia unter den letzten vier stehen würde.
Reimer (l.) bei der Eishockey-WM 2015
Das Finale gegen Russland
Bald standen die Deutschen unter den letzten zwei. Das Finale gegen Russland. Diese vermaledeiten 55,5 Sekunden, die zur Goldmedaille fehlten, weil in dieser vermeintlich letzten olympischen Minute die deutschen Nerven einen Schlussstrich zogen. Das Gegentor bei eigener Überzahl, die Verlängerung, die kein Ende nehmen wollte. Und dann, nach neun Minuten und elf Sekunden, der russische Schläger der sich unter den Stock von Patrick Reimer schob, diesen nach oben katapultierte und den Russen im Gesicht traf. Die Zeitstrafe. Gegen Reimer. Die Einzige in dieser Verlängerung, die letzte in diesem Turnier. Denn Kirill Kaprizov mochte keine deutschen Märchen.
Die Legende tritt ab
Im Sommer wird in Mindelheim wieder das Frundsbergfest gefeiert. Patrick Reimer ist als Landsknecht natürlich dabei. Zweimal musste das Spektakel wegen Corona abgesagt werden. Vielleicht hat er deshalb schon sehr früh aus ungeduldiger Vorfreude damit begonnen, seinen Bart ins Uferlose wachsen zu lassen. Nach seinem letzten Spiel sagte er auf dem Eis der Nürnberger Arena: "Ich habe das Gefühl, dass ich wohl einiges richtig gemacht habe." Man konnte dabei seine Augen lachen sehen. Und auf den Rängen lagen sich fremde Menschen in den Armen und weinten.