Dopingfall Vicky Schlittig Wie das Imperium gegen eine junge sächsische Gewichtheberin zurückschlägt
Von zwei juristischen Instanzen ist die sächsische Gewichtheberin Vicky Schlittig inzwischen freigesprochen worden, doch Verband und Welt-Anti-Doping-Agentur drängen weiter auf eine Vier-Jahressperre.
Längst ist Vicky Schlittig es leid, sich über ihren Sport, das Gewichtheben, große Gedanken zu machen oder über ihr Dopingverfahren. Früher hat sie Gewichte gehoben und wollte an Europa- und Weltmeisterschaften teilnehmen – mit einem langfristigen Ziel: 2028 in Los Angeles für Deutschland bei den Olympischen Spielen anzutreten.
Von den Idealen und den Träumen ist nichts mehr geblieben: Vicky Schlittig ist im November 2021 in einer Dopingprobe positiv getestet worden. Und obwohl wissenschaftliche Experten sie aufgrund diverser Ungewöhnlichkeiten der Probe für unschuldig halten und bereits ein deutsches Strafgericht und eine erste Instanz des Internationalen Sportgerichtshofs CAS sie freigesprochen haben, kämpfen Anti-Doping-Instanzen weiter für eine rigorose Bestrafung der jungen Athletin - dafür, dass sie vier Jahre gesperrt wird.
"Man soll zwar nie nie sagen", sagt Schlittig, die inzwischen eine Ausbildung zur Fitnesskauffrau macht, der ARD-Dopingredaktion: "Momentan habe ich aber meine Motivation verloren, um diesen Sport weiter zu betreiben. Ich liebe ihn nach wie vor. Ich gucke ihn mir gerne an, und es ist für mich immer noch ein toller Sport. Aber für mich macht es momentan keinen Sinn, ihn auszuführen, weil der Internationale Gewichtheberverband mich ja eindeutig nicht möchte."
Furcht vor einem Präzedenzurteil
Ihr Problem: Ihr Fall steht stellvertretend für Ungerechtigkeiten im Anti-Doping-System. Um überhaupt Sportler sperren zu können, gilt darin, dass ein positiv getesteter Athlet seine Unschuld beweisen muss. Doch gerade in den Fällen, in denen der Sportler nicht gedopt hat, sondern unbemerkt und unabsichtlich mit der verbotenen Substanz in Kontakt kam, fällt ihm der Nachweis schwer. Oder er ist unmöglich. Vor allem, wenn zwischen dem Test und der Veröffentlichung des Ergebnisses Wochen, manchmal Monate verstreichen.
Trotzdem tun die Internationale Test-Agentur (ITA) und die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) alles, um das Prinzip trotz der Ungerechtigkeiten zu verteidigen. Sie kämpfen dagegen an, das Prinzip zum Wohle größerer Gerechtigkeit aufzuweichen. Offenbar fürchten sie, bei ihrer ohnehin geringen Fangquote könnte dann auch der eine oder andere Doper durch die Maschen schlüpfen. Dann lieber, so scheint es, opfern sie auch mal einen unschuldigen Athleten.
Travis Tygart, Chef der amerikanischen Anti-Doping-Agentur USADA und selbst ein entschiedener Anti-Doping-Kämpfer, kennt das Schlittig-Urteil des CAS und kritisiert das Vorgehen von WADA und ITA. "Wir müssen fürsorglicher und mitfühlender sein und die Regeln verstehen. Wir müssen verstehen, wie sie das Leben von Athleten zerstören können, und wir müssen bessere Maßnahmen ergreifen, um Doper zu erwischen und sicherzustellen, dass absichtliche Betrüger nicht mit absichtlichem Betrug davonkommen", sagt Tygart: "Wir müssen sicherstellen, dass die Maßnahmen besser konzipiert sind, damit wir nicht das Leben unschuldiger Athleten zerstören, wie wir es schon zu oft erlebt haben."
Für Schlittigs Schuldspruch kämpfen ITA und WADA weiter, um zu verhindern, dass andere Athleten ihn als Präzedenzfall heranziehen können. Tygart scheint es, als wollten sie in diesem ungleichen Kampf des Anti-Doping-Imperiums gegen eine kleine Gewichtheberin die Rechtsmittel so lange strapazieren, bis sie an einen Richter geraten, der ihnen Recht gibt.
Die ITA hält Schlittigs Begründung nicht für ausreichend. Die WADA führt an, die CAS-Entscheidung in der Erstinstanz sei nicht "in Einklang mit dem WADA-Code und den Einzelfallentscheidungen des CAS". Ganz so, als ließe der WADA-Code keinen Freispruch nach einer Positivprobe zu. Und als nichtstaatliches Gericht verfährt der CAS so, wie es ihm gerade passt. Manche seiner Entscheidungen veröffentlicht er, die meisten nicht. Die Systematik eines sich durch Rechtsprechung entwickelnden Rechts lässt sich so nicht erkennen. Unter den unveröffentlichten Schiedssprüchen sind sogar Entscheidungen, die als Präzedenzurteile gelten. Und zuletzt das erstinstanzliche Schlittig-Verdikt.
Kontaminations-Szenario wie im ARD-Film "Schuldig"
Schlittig kann nicht mit Sicherheit beweisen, wie die Substanz Oral-Turinabol, ein Klassiker des DDR-Staatsdopings, in ihren Köper gekommen ist. Biochemische Auffälligkeiten jedoch belegen mit anderen Faktoren nach Auffassung von Experten ihre Unschuld. Das reichte dem CAS-Richter. So hat der CAS in seinem erstinstanzlichen Freispruch zu Schlittig unter dem Aktenzeichen 2022/ADD/53 festgehalten, "dass aufgrund der vorherigen und nachfolgenden negativen Tests und der geringen/spürbaren Mengen es wahrscheinlich ist, dass Frau Schlittig transdermaler Verabreichung ausgesetzt war, die nicht beabsichtigt war, und dass sie daher sie kein Verschulden trifft".
Experten wie der Niederländer Douwe de Boer, aber auch andere renommierte Biochemiker, mit denen die ARD-Dopingredaktion gesprochen hat, haben Schlittig also bescheinigt, dass aufgrund neuester Forschung in ihrem Fall eine Kontamination über die Haut wahrscheinlich ist – die Übertragung einer sehr geringen Menge, womöglich versehentlich oder sogar als Sabotage. Die ARD-Dopingredaktion hatte 2022 in dem Film "Schuldig" auf ein solches Szenario hingewiesen und ein wissenschaftliches Experiment dazu filmisch begleitet. In diesem Experiment fielen unzählige Proben allein nur durch flüchtigen Hautkontakt dopingpositiv aus, wenn das Dopingmittel sich auf der Haut befand.
Aber im Fall Schlittig gab es dennoch zunächst kein Pardon: Die potenziell unschuldige Gewichtheberin wurde für fast zwei Jahre provisorisch gesperrt. So dass nun sogar der sonst für seine Resolutheit bekannte US-Dopingjäger Tygart die Anti-Doping-Instanzen in Fällen wie bei Vicky Schlittig zu flexiblerer Haltung auffordert. Tygart hatte einst etwa den notorischen Doper Lance Armstrong mit viel Geduld zur Strecke gebracht.
"Es ist ein faszinierender Fall", sagt der Chef der USADA, "alles spricht für eine Verabreichung über die Haut, die Experten sagen, es gäbe keine leistungssteigernde Wirkung. Der Fall wurde von einem CAS-Einzel-Schiedsrichter entschieden. Auf sein Urteil sollten wir vertrauen können. Nun wird das Verfahren in die Länge gezogen und die Athletin genötigt, große Geldsummen auszugeben, um letztendlich zu einem fairen Ergebnis zu kommen. Wenn wir aber Athleten bestrafen, die sich nicht des vorsätzlichen Betrugs oder der Fahrlässigkeit schuldig gemacht haben, ist das ein Problem. Ich glaube nicht, dass das System fair mit Athleten umgeht."