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Vorwürfe gegen früheren Trainer und Schiedsrichter Sexualisierter Missbrauch im Faustball: "Schweigen schützt den Falschen"
Missbrauchsvorwürfe gegen einen früheren Trainer und Schiedsrichter erschüttern den Faustball. In der Aufarbeitung ist auch der krisengeschüttelte Deutsche Turner-Bund gefordert.
3.498 Tage. Unvorstellbar und quälend lang trägt Laura eine Geschichte mit sich. Diese Geschichte begleitet sie fast ihr halbes Leben. Es geht um sexualisierten Missbrauch, den die Faustballerin aus Niedersachsen als Teenager erleiden muss. 3.498 Tage lang kann sie darüber entweder gar nicht oder nur sehr schwer sprechen. Doch das soll sich nun ändern.
"Ich gehe an die Öffentlichkeit, weil Schweigen keine Option mehr ist", erzählt die 25-Jährige im Gespräch mit SWR Sport. "Schweigen schützt einfach den Falschen. Das ist leider so."
Faustball: kein großer, aber ein familiärer Sport
Seinen Beginn nimmt dieser unfassbar lange Zeitraum am Sonntagnachmittag des 26. Juli 2015. Laura, damals 15 Jahre alt, gilt früh als talentierte und ambitionierte Faustballerin. Mit ihrem Verein aus der Nord-Staffel hat sie gerade einen Bundesliga-Spieltag hinter sich, als sie via Facebook Nachrichten eines Trainers eines anderen Vereins erhält. Er lobt sie, so erzählt sie, für ihre sportlichen Leistungen, macht ihr Komplimente für ihre Spielweise.
Es entsteht ein lockerer und freundschaftlicher Kontakt, bei dem sich Laura zunächst nichts weiter denkt. Denn Faustball ist kein großer, aber sehr wohl ein familiär geprägter Sport. Man kennt sich über Vereins- und Landesgrenzen hinaus, man schätzt sich, man unterstützt sich. Doch irgendwann verändern sich die Nachrichten, die Laura von diesem Trainer erhält. Es bleibt eben nicht bei 'Wie geht's dir?' oder 'Was machst du gerade?'.
"Das kann nicht normal sein"
Plötzlich sieht sich die junge Spielerin mit Fragen nach ihrer Kleidung konfrontiert, nach ihrer Unterwäsche und Körbchengröße. Sogar sexuelle Erfahrungen und Vorlieben will der Trainer von ihr wissen. "Spätestens da hätte einem klar sein müssen: Das kann nicht normal sein", sagt Laura. Doch als Minderjährige ist sie in dem Moment verunsichert und auf sich allein gestellt. Kann den Unterschied zwischen 'normal' und 'nicht normal' kaum erkennen.
Der Trainer, der in diesem Moment beginnt, sie zu nötigen und zu bedrängen, ist ein 13 Jahre älterer Mann aus Bardowick im Landkreis Lüneburg. Im Faustball in Niedersachsen genießt er einen guten Ruf, fachlich wie menschlich. Einstige Wegbegleiter aus seinem früheren Umfeld beschreiben ihn als engagiert sowie fleißig, einmal fällt der Begriff "Menschen-Magnet". Der Tenor: Mit diesem Mann musste man sich einfach gut verstehen.
Im Rückblick aber erscheinen seine Wesenszüge wie Alarmsignale. Als Trainer wie als Mensch habe er immer allen gefallen wollen, erzählt eine andere Faustballerin aus Niedersachsen, die sein Verhalten als "Schrei nach Bestätigung und Liebe" beschreibt. Auch ein Beuteschema des Mannes sei damals erkennbar gewesen, wie ein weiterer Trainer eines anderen Vereins aus der Region sagt: "Gutes Aussehen und gut Faustball spielen."
Viel wichtiger aber: Der Mann aus Bardowick ist zu diesem Zeitpunkt nicht einfach nur Vereinstrainer, im Faustball in Niedersachsen hat er eine Macht-Position inne. Als Landesauswahl-Trainer nimmt er Einfluss darauf, welche Spielerinnen vom Sprung in die Jugend-Nationalmannschaft träumen dürfen – und welche eben nicht. "Wenn ich mich nicht mit diesem Mann verstehe, wenn er seine Kontakte nutzt, dann nutzt er eben auch seine Kontakte zu den Jugend-Nationaltrainern", erinnert sich Laura. "Da hat man dann schlechte Karten und das wollte ich damals nicht aufs Spiel setzen."
2017 kommt der Niedersächsische Turner-Bund ins Spiel
Diese Macht-Position scheint der Auswahltrainer systematisch für seine Zwecke auszunutzen. Er verlangt Fotos von Laura, erst in Unterwäsche, dann ganz ohne Kleidung. "Er wollte, dass ich mich beim Duschen oder beim Umziehen filme und ihm die Sachen schicke", erzählt sie. "Schlussendlich wollte er auch, dass man sich bei Spieltagen oder Meisterschaften heimlich in der Umkleidekabine trifft, damit ich mich da vor ihm ausziehe oder mich von ihm anfassen lasse." Auf jedes Nein reagierte der Mann mit einer neuen Nachricht. "Er hat mich immer wieder dazu gedrängt. Bis er am Ende das bekommen hat, was er wollte."
Im Oktober 2017 werden der Auswahltrainer und sein Verhalten Thema beim Niedersächsischen Turner-Bund (NTB) mit Sitz in Hannover. Hintergrund: Faustball ist ein Sport, der seine Wurzeln in Deutschland auch im Turnen hat. Historisch wie strukturell ist Faustball deshalb seit jeher mit dem heute krisengeschüttelten Deutschen Turner-Bund (DTB) verbandelt. Regional sind die Landesverbände zuständig.
Kein Rauswurf durch den NTB, aber ein Rücktritt
Zu einem aktiven Rauswurf des Trainers kann sich die Faustballabteilung des NTB nicht durchringen, von seinen Ämtern – auch dem als Landesjugendwart – tritt der Mann aber zurück. Nachrichten zwischen ihm und Laura gibt es nicht mehr, spät im Jahr 2017 bricht die Spielerin den Kontakt ab. Für den damals wie heute zuständigen Landesfachwart ist die Angelegenheit in diesem Moment geklärt. Jahre später will er sich nicht mehr dazu äußern, die Anfrage nach einem Interview lehnt er ab. Ernsthaftes Interesse an einer Aufarbeitung im Sinne von betroffenen Spielerinnen wie Laura? Nicht zu erkennen.
Und so kommt es, dass die Angelegenheit um den nun ehemaligen Auswahltrainer eben doch nicht geklärt oder gar aufgearbeitet ist – im Gegenteil. Nach einigen Jahren der Abwesenheit wird ihm im Herbst 2020 eine Rückkehr als Schiedsrichter in den Faustballsport ermöglicht. Bemerkenswert: nicht auf regionaler Ebene, sondern deutschlandweit. Für die heute nicht mehr existierende Deutsche Faustball-Liga (DFBL) pfeift er Spiele in der Bundesliga. Ein vermeintliches Gentlemen's Agreement mit den damaligen Entscheidungsträgern, er werde nur im Männerbereich eingesetzt, ist schnell hinfällig.
Ex-Trainer plötzlich Schiri – auch bei Frauen-Spielen
Plötzlich steht er auch bei Begegnungen im Frauen-Bereich an der Seitenlinie, leitet sogar Partien mit Beteiligung von Lauras Mannschaft. "Ich glaube, ohne den internen Untersuchungen vorgreifen zu wollen, dass man seinerzeit die Sorge, jemanden unschuldig vorzuverurteilen, über das Schutzbedürfnis gestellt hat. Das war sicher ein Fehler", sagt Torsten Woitag, Vorstandssprecher des DFBL-Nachfolgerverbandes Faustball Deutschland.
Woitag ist damals noch nicht als Funktionär in dem Sport tätig, erst rund um die Heim-Weltmeisterschaft der Männer 2023 kommt er zum Faustball. Etwa ein Jahr später werden er und der Verband von Laura informiert, woraufhin der Schiedsrichter aus Bardowick im Oktober 2024 durch Faustball Deutschland vorläufig suspendiert wird. "Es stellte sich schnell heraus, dass das nicht aus der Luft gegriffen zu sein schien", beschreibt Woitag die ersten Erkenntnisse des überwiegend ehrenamtlich geführten Verbandes, der nun seit Monaten an einer internen Aufklärung sitzt, eine Integritätsbeauftragte einsetzt und mit der Safe-Sport-Beauftragten des seit Weihnachten 2024 nicht aus den Schlagzeilen kommenden DTB zusammenarbeitet.
Missbrauchsvorwürfe im Faustball: Wie viele Betroffene gibt es?
Wichtiges und zugleich erschütterndes Zwischenfazit: Im niedersächsischen Faustball scheint Laura kein Einzelfall zu sein. Der Verband zählt schnell sechs Spielerinnen aus vier Vereinen, die der ehemalige Trainer und Schiedsrichter zu Fotos und Videos genötigt haben soll. Nach unseren Recherchen sind es sogar zehn bis 15 Fälle seit 2004. Die meisten Spielerinnen waren zum jeweiligen Zeitpunkt minderjährig. Die genaue Zahl lässt sich nur schwer rekonstruieren, viele Betroffene wollen heute nicht mehr über das Erlebte sprechen.
Laura aber möchte es. In den knapp zehn Jahren, die seit dem 26. Juli 2015 vergehen, tut sich bei ihr einiges. Im Spätsommer 2023 stellt sie Strafanzeige gegen den Mann aus Bardowick, die Ermittlungen dauern bis heute an. Sportlich schafft sie kurz vorher den Sprung in die Nationalmannschaft, wird erst Europa- und im November 2024 Vize-Weltmeisterin. Parallel dazu läuft die innere Verarbeitung immer weiter.
"Es gab andere, die es geahnt haben – die haben weggesehen"
"In erster Linie wäre mir wichtig gewesen, dass es Menschen gibt, die einfach hinschauen, damit es überhaupt gar nicht soweit kommen kann", blickt die Faustballerin auf das Geschehene zurück. "Ich habe damals nicht verstanden, was mir da eigentlich passiert ist. Es gab aber andere, die es geahnt haben – und die haben weggesehen." Jetzt möchte Laura mit ihrer Geschichte anderen Betroffenen Mut machen.
"Die anderen, das sind für mich die Mädchen, die vielleicht jetzt gerade zuhause sitzen, denen es aufgrund solcher Themen und solcher Geschichten schlecht geht", sagt die 25-Jährige. "Es geht darum, Mädchen zukünftig zu schützen, damit so etwas nicht mehr passiert, damit sie sich besser wehren können, als ich es damals konnte. Mit diesem Thema ist einfach niemand alleine."
Ex-Trainer und -Schiedsrichter äußert sich nicht
Der ehemalige Trainer und Schiedsrichter will sich trotz Anfrage von SWR Sport nicht zum Missbrauch und den Vorwürfen gegen ihn äußern. Für Laura aber ist die lange Zeit des Schweigens endlich vorbei – 3.498 Tage bis in den Februar 2025 hinein sind genug.