Kunst-Turn-Forum Stuttgart

Aufarbeitung nach schweren Vorwürfen Krise im Turnen: Viel Schatten und einige Lichtblicke

Stand: 22.03.2025 10:22 Uhr

Durchsuchungen, jüngste Freistellungen von Trainerinnen und Aufarbeitungsversuche durch Verbände. Was ist los im deutschen Turnen? Eine Einordnung von SWR-Redakteur Johannes Seemüller.

Es rumort gehörig im deutschen Turnen. Die Diskussionen um die angeprangerten Missstände an den Turnstützpunkten in Stuttgart und Mannheim und um deren Aufarbeitung gehen weiter. Zur Jahreswende hatten ehemalige und aktive Leistungs-Turnerinnen wie Tabea Alt, Janine Berger oder Rekordturnerin Elisabeth Seitz Vorwürfe über seelischen Missbrauch erhoben. Sie kritisieren dabei vor allem den Deutschen Turner-Bund (DTB) und den Schwäbischen Turnerbund (STB). Ihr Vorwurf: Die Verbände hätten wider besseren Wissens weg geschaut.

Nun versuchen die Verbände, verloren gegangenes Vertrauen zurück zu gewinnen. Der DTB hat Mitte Januar eine Rechtsanwaltskanzlei mit einer Untersuchung beauftragt, die nachfolgene Aufarbeitung soll durch einen externen Expertenrat erfolgen. Parallel dazu startet der Landessportverband BW auf Drängen des Sportministeriums auf eine eigenständige Aufarbeitung für den Turnsport in Baden-Württemberg. Wie ist dies alles einzuordnen? Welche Konsequenzen müssen gezogen werden? Welche Rolle spielen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft?

SWR-Sportredakteur Johannes Seemüller berichtet seit Beginn der Veröffentlichung der Vorwürfe durch ehemalige und aktive Turnerinnen über die Situation im deutschen Turnsport. Im Interview berichtet er über die aktuelle Situation.

SWR Sport: Am Donnerstag gab es zur aktuellen Situation eine öffentliche Anhörung im baden-württembergischen Landtag - u.a. mit Vertretern der Turnverbände, mit Experten und mit Janine Berger, einer der betroffenen Turnerinnen. Was ist das für ein Signal, dass dieses Thema öffentlich behandelt wird?

Johannes Seemüller: Es ist ein wichtiges Zeichen der Politik an alle Beteiligten. Zum einen an die betroffenen Turnerinnen. Ihnen wird signalisiert: 'Wir nehmen euch ernst. Wir bedauern, dass euch das alles passiert ist. Und wir wollen dafür sorgen, dass dies den aktuellen und vor allem auch den folgenden Generationen im Turnsport nicht widerfährt.'

Zum anderen ist es ein wichtiger Fingerzeig Richtung Sportverbände. Die Botschaft lautet: 'Wir schauen jetzt genauer hin. Wir wollen nicht, dass junge Athletinnen unter psychischer Gewalt leiden müssen. Wir wollen einen menschenfreundlichen Sport ohne verbale Übergriffe oder Demütigungen. Ihr im Sportsystem seid dafür verantwortlich, dies auch umzusetzen.' Das Land fördert den Turnsport in Baden-Württemberg allein in diesem Jahr mit 1,6 Millionen Euro. Das Land sitzt also am Geldhahn. Sportministerin Theresa Schopper hat damit gedroht, diesen Geldhahn teilweise zuzudrehen, wenn es nicht bald zu wirksamen Maßnahmen kommt, die zu einem Kulturwandel in den Turnhallen sorgen.

Im übrigen ist es auch ein wichtiges Signal an die vielen Eltern von jungen Turnerinnen und Turnern, die diese Vorkommnisse und die Form der Aufarbeitung teilweise mit großer Sorge beobachten. Sie fragen sich zweifelnd: Kann ich mein Mädchen oder meinen Jungen noch guten Gewissens zum Turnen schicken? Diese Verunsicherung und dieses Misstrauen ist inzwischen in etlichen Vereinen spürbar.

So lief die Anhörung zum Turnskandal im Bildungsausschuss

Der DTB bemüht sich um eine Untersuchung und um eine Aufklärung der Vorfälle. Eine ähnliche Situation hatte es auch schon 2021 nach den Vorfällen am Stützpunkt in Chemnitz gegeben. Aber etliche Turnerinnen vertrauen dem DTB jetzt nicht mehr. Warum?

Turnerinnen, mit denen ich gesprochen habe, sind maßlos enttäuscht vom DTB. Sie haben in den vergangenen Jahren und auch aktuell immer wieder in Gesprächen oder schriftlich auf Vorfälle und Missstände hingewiesen. Dann wurde ihnen von Verbandsseite gesagt, dass man dem selbstverständlich nachgehen werde. Aber passiert ist zu wenig. Klar, nach den Vorfällen von Chemnitz 2021 wurden viele Papiere geschrieben, es wurde das Programm "Leistung mit Respekt" aufgesetzt. Aber am Ende des Tages ist es trotzdem wieder zu Missständen gekommen.

Magelndes Fingerspitzengefühl beim DTB

Hinzu kommen andere Dinge, die etwas über das Fingerspitzen-Gefühl des DTB aussagen. Da weigert sich der Verband, die betroffenen Turnerinnen bei ihren möglichen Gesprächen mit der untersuchenden Anwaltskanzlei finanziell angemessen zu unterstützen. Man wolle zwar die Kosten für eine einmalige Rechtsberatung übernehmen, aber falls die Turnerinnen tatsächlich mit einem Rechtsbeistand an den Gesprächen teilnehmen wollen, müssten sie die Kosten hierfür selbst übernehmen. Der DTB betont, er sei zur Übernahme dieser Kosten nicht verpflichtet. Das mag aus juristischer Sicht ja vielleicht richtig sein. Aber was ist das für ein Signal gegenüber den betroffenen Sportlerinnen?! Der Verband hätte in meinen Augen eine moralische Verpflichtung, solche Kosten zu übernehmen.

So ist es nicht verwunderlich, dass mittlerweile über 26.000 Personen eine Online-Petition von Janine Berger, der Olympia-Vierten 2012 von London, unterschrieben haben. Darin wenden sie sich gegen die bereits laufende Untersuchung durch die Anwaltskanzlei. Kurzum: Das Misstrauen vieler Turnerinnen gegenüber dem DTB ist groß.

Auch wegen dieses Misstrauens der Turnerinnen gegenüber dem DTB geht das Land Baden-Württemberg jetzt einen eigenen Weg. Wie sieht dieser Weg aus?

Sportministerin Theresa Schopper, aktuell auch Vorsitzende der Sportminister-Konferenz der Länder, hat auf diese landeseigene Aufarbeitung gedrängt. Der Landessportverband, also die Dachorganisation der Sportverbände in BW, hat jetzt ein Konzept für eine möglichst unabhängige Aufarbeitung vorgelegt. Dabei soll v.a. auch das Sportsystem durchleuchtet und neue Ansätze für strukturelle Veränderungen angedacht werden. Es soll eine Arbeitsgruppe gegründet werden, die hochkarätig besetzt ist und (zunächst einmal) aus fünf Personen besteht. Dabei sind ein ehemaliger Staatsanwalt, eine Ethikprofessorin, eine Sportwissenschaftlerin und ein Sportwissenschaftler, und den Vorsitz soll Clemens Binninger übernehmen. Er war als Bundestags-Abgeordneter u.a. Vorsitzender des 2. NSU-Untersuchungsausschuss.

Dieser Expertenrat will schon im April seine Arbeit aufnehmen. Und bei allen Vorbehalten, die es sicherlich auch gegen diese Besetzung geben kann, sollte man diesem Gremium in meinen Augen jetzt erst mal eine Chance geben. Dieser Expertenrat soll im Übrigen auch direkten Kontakt zur Staatsanwaltschaft halten; denn diese ermittelt ja nach wie vor.

Wie es scheint, ermittelt die Staatsanwaltschaft auf Hochtouren. Am Mittwoch durchsuchten Beamte des Landeskriminalamts den Turnstützpunkt in Mannheim. Daraufhin stellte zunächst der DTB die aktuelle Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk zunächst einmal für vier Wochen frei, und der Badische Turner-Bund am Freitag die leitende Trainerin am Stützpunkt Mannheim. Was sind da die Hintergründe?

Zunächst einmal: Ich habe den Eindruck, dass die Ermittler bei diesem Thema wirklich "all in" gehen. Sie haben bereits die Räumlichkeiten von DTB, STB, vom Olympiastützpunkt Stuttgart, Landessportverband BW und jetzt auch vom Turnstützpunkt Mannheim durchsucht. Sie haben nach meinen Informationen auch schon viele Gespräche mit betroffenen Turnerinnen und/oder deren Eltern geführt. Zu diesen Gesprächen kommt dann nicht nur eine Person; da kommt die Staatsanwältin oder der Staatsanwalt in Begleitung von gleich mehreren Ermittlern. Also, da wird ein erheblicher, auch personeller Aufwand betrieben.

Staatsanwaltschaft und LKA ermitteln mit Nachdruck

Und dieser Aufwand scheint etwas zu bewegen. Gegen den ehemaligen Trainer von Olympia-Turnerin Helen Kevric in Stuttgart wird wegen des Verdachts auf Nötigung ermittelt; auch im aktuellen Fall von Claudia Schunk wird es nicht nur um die älteren Vorwürfe aus ihrer Zeit als Stützpunktleiterin in Mannheim gehen. Hier greift wohl die Verjährung. Es muss auch aktuelle Vorwürfe gegen die heutige Nachwuchs-Bundestrainerin geben. Sonst hätte der Deutsche Turner-Bund, der bis zuletzt an Schunk festgehalten hat, sie nicht freigestellt. Und jetzt kommt noch die Freistellung der leitenden Trainerin am Stützpunkt Mannheim hinzu. Nach unseren Informationen gilt diese als moderne Trainerin, die ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Turnerinnen haben soll. Problematisch soll es nur immer dann geworden sein, wenn Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk auch vor Ort war.

Es scheint aber auch einen Lichtblick in diesen eher düsteren Tagen für den Turnsport zu geben. Am Kunst-Turn-Forum in Stuttgart coacht jetzt eine absolute Toptrainerin: Die US-Amerikanerin Aimee Boorman, die Simone Biles in zwölfjähriger Zusammenarbeit zum Weltstar formte. Du hast sie am Mittwoch getroffen. Welchen Eindruck hast du von ihr?

Also, wenn diese Frau den Raum betritt, hat man das Gefühl, die Sonne geht auf. Aimee Boorman strahlt eine Lebensfreude und einen enormen Optimismus aus. Diese positive, amerikanische Art tut dem deutschen Turnen in seiner jetzigen Situation sicherlich richtig gut. Sie hat betont, dass sie sich bewusst nicht mit den Missständen am Kunst-Turn-Forum beschäftigt hat. Ich denke, sie will alles auf Null stellen. Sie will den Turnerinnen einfach nur den Spaß am Sport vermitteln und den ganzen großen Druck rausnehmen. Boorman scheint ein sehr kommunikativer Mensch zu sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie relativ schnell das Vertrauen der Sportlerinnen gewinnen kann.

Boorman wird als sehr empathisch geschildert, sie nimmt die Bedürfnisse der Turnerinnen ernst. Und sie stellt sich voll hinter ihre Sportlerinnen, wenn es mal Probleme mit dem Verband geben sollte. Simone Biles hat davon gesprochen, dass Aimee Boorman "wie eine Mutter" zu ihr gewesen sei. Das sind Worte und Vergleiche, die wir auch im deutschen Turnen gerne wieder hören würden.

Neue Turntrainerin Aimee Boorman

Sendung am Sa., 22.3.2025 14:00 Uhr, Stadion, SWR1