Twitch, Spätkauf, Freestyle Twitch, Spätkauf, Freestyle: "Schach ist mittlerweile Popkultur"
Schach, das "Spiel der Könige", erlebt einen Hype. Immer mehr Menschen wollen Schach spielen - im Verein oder privat. Wie sich das in Berlin bemerkbar macht und was das Ganze mit der Corona-Pandemie zu tun hat. Von Antonia Hennigs
Levy Rozman ist der berühmteste Schach-Influencer auf YouTube. Seinem Account "GothamChess" folgen 5,91 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Bianca Heinicke betreibt mit "BibisBeautyPalace" einen der erfolgreichsten deutschen YouTube-Accounts. Ihr folgen 5,77 Millionen Menschen. Rozman postet täglich Videos, in denen er Schach-Taktiken erklärt, seine eigenen Partien streamt oder Profi-Schachspieler analysiert. Er ist ein Internet-Star – dank Schach.
Von wegen verstaubt und altbacken, bestätigt auch Paul Meyer-Dunker, Präsident des Berliner Schachverbands: "Früher hat der Nerd im Keller Schach gespielt, jetzt ist man das coole Kind." So erlebt es zumindest der 32-Jährige, der auch in den Berliner Schachvereinen einen deutlichen Zuwachs beobachtet. Meyer-Dunker wurde im Juni 2021 zum Präsidenten gewählt. Seitdem habe der Berliner Schachverband knapp 25 Prozent mehr Mitglieder dazu gewonnen, erklärt er.
Der Berliner Verband steht bei über 3.300 Mitgliedern, der Deutsche Schachbund (DSB) verzeichnet rund 90.000 Mitglieder. Zum Vergleich: Der Deutsche Hockey-Bund hat knapp 88.000 – der Deutsche Ruderverband um die 87.000 Mitglieder. "Viele Vereine mussten auch Aufnahmestopps im Kinder- und Jugendbereich erlassen, weil sie das nicht mehr bewältigt kriegen", erzählt Meyer-Dunker.
Magnus Carlsen beim TATA Steel Chess India 2024
Raus aus der Nische
Der große Wendepunkt war die Corona-Pandemie. Eine Zeit, in der viele Menschen online Schach gespielt haben und das Spiel für sich wieder entdeckt haben. Im Herbst 2020 strahlte Netflix außerdem erstmals die Serie "Das Damengambit" aus, in der es um eine junge Schachspielerin geht, die sich in der Männerdomäne der 1950er und 1960er Jahre durchsetzt. "Die Serie ging bis in den Mainstream hinein. Auch dadurch haben wieder mehr Leute Schach gespielt", bestätigt Meyer-Dunker.
Schach sei es in den letzten Jahren immer wieder gelungen, durch kleine "Skandälchen" – wie Meyer-Dunker sagt - in den Medien stattzufinden und eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Ein Beispiel: Magnus Carlsen. Der Norweger war von 2013 bis 2023 durchgehend Schach-Weltmeister und polarisiert auch über die Grenzen der Schachwelt hinaus. Erst kürzlich stand das sogenannte "Jeans-Gate" im Fokus. Bei der Schnellschach-WM in New York wurde Carlsen disqualifiziert, weil er eine Jeans trug: Ein Verstoß gegen die Kleiderordnung des Weltschachbunds. Mit den Worten "Fine. I’m Out. Fuck you" verabschiedete er sich aus dem Turnier.
Unterschiedliche Schach-Events in Berlin
Auch Berlin ist im Schachfieber: In den Vereinen, aber auch im Freizeit-Bereich. Events wie "Chess und Jazz" und "Stranger Chess" sind gut besucht. Der Veranstalter von "Chess und Jazz", Clemens Lotz, bestätigt: "Ab dem ersten Corona-Lockdown war das Event sehr voll. Ab dann hatten wir immer um die 80 Gäste."
Bei der Veranstaltung, die mittlerweile im Café Holzmarktperle in Berlin-Friedrichshain stattfindet, spielt eine Jazz-Band, während interessierte Schachspieler sich an zahlreichen Tischen duellieren. Von 2020 bis 2024 wurde das Event vom Senat gefördert – so konnte Lotz die Musiker bezahlen. "Schach ist mittlerweile Popkultur", sagt der Musiker. Bei "Chess und Jazz" wollen die Menschen "einen entspannten Abend mit Schach, Freunden und Musik verbringen und nicht unbedingt so ernsthaft spielen." Aber auch Schachspieler aus Berliner Vereinen seien regelmäßig vor Ort.
Auch Wolf Boese hat mit "Stranger Chess" einen Ort geschaffen, an dem das Schachbrett die Menschen zusammenbringt. Im Sommer sitzt er vor einem Spätkauf, im Winter in einem Raum im Kino "Babylon", und empfängt täglich Schachspieler von jung bis alt. "Es ist mein Wohnzimmer", sagt Boese, der beobachtet, dass die Besucher von "Stranger Chess" gerade kein Interesse daran haben, Schach im Verein zu spielen. "Sie wollen sich nicht 'committen' und an Termine halten müssen. Sie empfinden diesen Leistungsanspruch in Vereinen als unangenehm", berichtet der Grafik-Designer. Entstanden ist "Stranger Chess" auf Spaziergängen während der Corona-Pandemie, bei denen er ein Schachbrett mitnahm. "Hey, magst du Schach?" habe er damals fremde Menschen gefragt. Und so sei ein Netzwerk entstanden. Bis heute stelle er Passanten, die am Schach-Späti vorbeilaufen, diese Frage.
Keine Altersgrenze, kaum Frauen
Aber was ist eigentlich so faszinierend am Schach? "Es ist die ultimative Form des Duells", sagt Paul Meyer-Dunker. "Man kann sich so gut auf Eröffnungen und Taktiken vorbereiten, wie man möchte, aber trotzdem wird sich jede Partie anders entwickeln", sagt Clemens Lotz. Alter spiele keine Rolle, betonen beide Experten. "Dass sich ein Achtjähriger und ein Neunzigjähriger bei einem Turnier auf Augenhöhe begegnen ist einfach einzigartig" schwärmt Meyer-Dunker außerdem. Der deutliche Vorteil zu anderen Sportarten? "Man kann bis ins höchste Alter dabeibleiben und ist nicht mit 35 raus, weil man einen Kreuzbandriss hat", lacht der Präsident.
Ein Blick auf die Aufteilung der Geschlechter offenbart allerdings ein deutliches Ungleichgewicht. Von rund 90.000 Mitgliedern im Deutschen Schachbund sind knapp 9.000 Frauen. Bei "Chess und Jazz" ist es zwar nicht ganz so deutlich, aber auch hier sind die Männer in der Überzahl, bestätigt Clemens Lotz: "Wir haben einen Frauen-Anteil von 20 bis 30 Prozent." Und auch Wolf Boese bestätigt: "Es sind im Allgemeinen mehr Männer vor Ort."
In der Influencer-Welt begeistern aber unter anderem zwei Frauen die Online-Community. Die Botez-Schwestern, Andrea und Alexandra, sind vor allem auf Twitch erfolgreich, wo sie ihre Schachpartien streamen. Die Twitch- und YouTube-Kanäle "BotezLive" der kanadischen Schachspielerinnen haben zusammen knapp 2 Millionen Follower, womit sie zu den populärsten Schach-Onlinekanälen zählen.
Magnus Carlsen und Anish Giri bei der Meltwater Champions Chess Tour in Oslo
Vorfreude auf die Olympic E-Sport Games
"Es gibt auch immer mehr Online-Turniere, wo die weltbesten Spieler mitmachen und wo es riesige Preisgelder gibt", erzählt Paul Meyer-Dunker. Schach und online: Das passt offenbar zusammen. Schach wird auch Teil der Olympic E-Sport Games sein, die das Internationale Olympische Komitee (IOC) voraussichtlich 2026 erstmals austragen wird. Meyer-Dunker ist DSB-Beauftragter für das Thema E-Sport und blickt voller Vorfreude auf die Teilnahme. "Das ist eine riesige Chance, um einen Fuß in die Olympische Sportfamilie zu kriegen und sie nie wieder zu verlassen. Am Ende des Tages sind Olympische Spiele das Aufmerksamkeitsfenster, was uns noch fehlt, damit wir unsere Ambitionen besser fördern können."
Auch Schach und ein ungezwungener Abend unter Freunden passt zusammen, wie Meyer-Dunker, Lotz und Boese bestätigen. "Das ist ein Problem, dass dem Schach noch immer der Ruf anhängt, es sei unsozial", sagt Meyer-Dunker. Volle Konzentration und Ruhe sei zwar bei Turnieren essentiell, aber sonst überhaupt nicht. "Da kann von mir aus auch der härteste Techno um mich herum gespielt werden", lacht der Präsident des Berliner Schachverbands.
Viel mehr als das klassische Schach
Neben dem klassischen Spiel gibt es auch Varianten wie "Hand and Brain" – eine Schachvariante, bei der "Zwei gegen Zwei" gespielt wird. Eine Person im Team bestimmt, welche Figur gezogen wird. Beispielsweise der Läufer. Die andere Person entscheidet dann, welcher der Läufer – wenn noch beide vorhanden sind – auf welches Feld gezogen wird.
Schach im Team - das kommt gut an, wie auch Clemens Lotz erzählt. Sogar bei den klassischen, internationalen Strukturen ist Bewegung drin. Das liegt mal wieder vor allem an Magnus Carlsen. Der Dauer-Weltmeister tritt nämlich nicht mehr bei Weltmeisterschaften an, da ihn das Format langweile, wie er 2022 nach seinem letzten WM-Match bekannt gab. Eine Alternative: Freestyle Chess. Eine Schachvariante mit veränderter Startformation, die – dank Carlsen – immer mehr an Einfluss in der Schachwelt gewinnt. Da entstehe ein Gegengewicht zum Internationalen Schachverband (FIDE), erklärt Clemens Lotz.
Ein Sport in Bewegung. International, national und auf kleinster Ebene mit einem Getränk am Berliner Spätkauf. Schach rüstet sich für die Zukunft und will das verstaubte Image hinter sich lassen. Das verstaubte Image, das vom Verband – Stichwort Kleiderordnungen – noch immer gelebt wird und das verstaubte Image, das von der noch immer auseinanderklaffenden Männer- und Frauenquote bestätigt wird. Mit Identifikationsfiguren, die Millionen von Menschen erreichen und mit einer enormen Online-Präsenz, die vor allem eine junge Zielgruppe anzieht, soll sich das ändern.