HSV-Zugang Selke Bibeltreuer Angreifer mit Bad-Boy-Image
Davie Selke soll beim HSV das bis dato im Kampf um die Bundesliga-Rückkehr immer fehlende Puzzlestück werden. Vom Angreifer erhoffen sich die Hamburger Verantwortlichen nicht nur Treffer, sondern auch einen Mentalitätsschub für das Team. Der 29-Jährige schont auf dem Platz weder sich noch seine Gegenspieler - und hat auch deshalb den Ruf, ein Bad Boy zu sein.
Das Gefühl, Ablehnung zu erfahren, oder sogar blankem Hass ausgesetzt zu sein, Selke hat es in seiner bewegten Fußball-Kariere immer wieder spüren müssen. "Everybody’s Darling" war der Stürmer noch nie. Gegenspieler und gegnerische Fans verteufeln ihn nicht selten wegen seiner robusten Spielweise und seines Gesamtauftretens auf dem Platz.
Schließlich ist Selke gerne mittendrin, wenn sich irgendwo ein Rudel bildet. Provokationen sind ihm ebenfalls nicht fremd. Und auch abseits des grünen Rasens hat der gebürtige Schwabe durch seine frühere Vorliebe für teure Autos und Uhren sowie ziemlich häufig wechselnde Frisuren für Aufsehen gesorgt.
Wechsel von Werder nach Leipzig sorgt für Shitstorm
Und dann waren da noch seine Vereinswechsel. Gleich der erste des Torjägers im Herrenbereich von Werder Bremen zu RB Leipzig (2015) löste einen Shitstorm aus. "Das habe ich mir damals sehr zu Herzen genommen", gab Selke jüngst zu. Und auch nun wird er wieder angefeindet. Und zwar von den Fans des 1. FC Köln.
Als der Angreifer am vergangenen Freitag in der Schlussphase der Zweitliga-Auftaktpartie des HSV bei den Rheinländern (2:1) eingewechselt wurde, pfiffen sie ihn gnadenlos aus. Daran trug Selke durchaus Mitschuld. Denn nach dem Abstieg des "Effzeh" hatte er erst eine Frist zur Vertragsverlängerung verstreichen lassen und sich dann, als die Kölner ihn nicht mehr weiterverpflichten wollten, darüber via sozialer Medien beschwert. Da war er wieder, der Bad Boy Davie Selke.
"Habe immer gedacht, das Geld ist die Erfüllung"
Am schnöden Mammon war die Weiterbeschäftigung des Angreifers in Köln gescheitert. Das Image, geldgierig zu sein, begleitet Selke ohnehin seine gesamte Profilaufbahn lang. Bereits sein Wechsel 2013 von der TSG Hoffenheim, die ihn jahrelang ausgebildet hatte, zu Werder hatte für Unverständnis gesorgt. Dass er die Bremer, bei denen er sein Bundesliga-Debüt feierte, dann nach nur zweieinhalb Jahren in Richtung des "Brauseclubs" aus Leipzig verließ, es verstärkte noch einmal den Eindruck, dass da ein junger Fußballer sehr schnell sehr viel Geld verdienen möchte.
Selke macht heute auch gar kein Geheimnis mehr daraus, dass das Finanzielle früher bei ihm im Mittelpunkt seiner Überlegungen gestanden hat. "Ich habe immer gedacht, das Geld oder materielle Dinge sind die Erfüllung. Wenn man sich aber irgendwann ein bisschen was erarbeitet hat und sich das eine oder andere kaufen konnte, kommt man relativ schnell an den Punkt, an dem man merkt, das erfüllt einen nicht", erklärte der 29-Jährige im Interview mit "Fußball mit Vision".
Der Glaube spielt in Selkes Leben zentrale Rolle
Früher sei es ihm wichtig gewesen, seinen Wohlstand nach außen zu tragen, materielle Dinge zu zeigen. "Ich besitze sie zwar immer noch, aber sie besitzen mich nicht. Früher habe ich mich dadurch definiert, mittlerweile definiere ich mich durch Jesus", verriet der Bundesliga-Profi. Vor einigen Jahren - noch zu seinen Zeiten bei Hertha BSC - sei er bekehrt worden, erzählte er weiter. Seitdem spielt der Glaube in seinem Leben eine zentrale Rolle.
"Ich starte in den Tag mit einem Gebet, lese die Bibel. Das löst einfach in dir so viel aus. Es lässt dich Menschen mehr lieben. Man wird weicher", sagte Selke: "Jesus ist meine Nummer eins, mein erster Ratgeber."
Fußball als Chance zum sozialen Aufstieg genutzt
Selke, so macht es den Eindruck, scheint in sich zu ruhen. Nicht nur des Glaubens wegen, sondern auch, weil er mit nur 29 Jahren bereits auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann. Der Vater einer zweijährigen Tochter darf für sich in Anspruch nehmen, sich von ganz unten nach ganz oben gekämpft zu haben. "Ich bin in finanziell schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Der Fußball war eine Riesenchance für mich, daran etwas zu ändern", erzählte der HSV-Angreifer.
Nahezu in jeder freien Sekunde stand er als Kind - Selke begann bereits mit drei Jahren mit dem Fußball spielen - und als Heranwachsender auf dem Platz. "Als ich dann in der U15 in Hoffenheim gemerkt habe, dass die Möglichkeit besteht, vielleicht Profi zu werden, habe ich dem alles untergeordnet", erklärte der Torjäger.
Angreifer wehrt sich gegen schlechten Ruf
Selke, Sohn eines Äthiopiers und einer Tschechin, schaffte den Sprung aus den ärmlichen Familienverhältnissen in die Glitzerwelt des Profifußballs. Ein steiniger Weg, der ihn prägte und Teil der Erklärung ist, warum Selke auf dem Platz weder sich noch seine Gegenspieler schont. Das wirkt dann zuweilen schon mal so, als sei dort eine fleischgewordene Abrissbirne auf dem Rasen unterwegs.
"Ich fühle auf dem Platz und ich lebe auf dem Platz. Ich sitze nicht vor dem Spiel in der Kabine und denke: Heute zettel' ich eine Schubserei an, damit die Leuten denken, ich sei ein richtiger Bad Boy. In den Situationen geht es immer ums Gewinnen. Ich glaube, das verwechseln die Leute manchmal", sagte Selke im Interview mit dem "Geissblog".
Abstieg mit Werder, Abschied von Hertha
So streitbar sein Auftreten ist, so unstrittig sind Selkes Qualitäten. Beachtliche 238 Bundesliga-Einsätze schlagen inzwischen für den 29-Jährigen zu Buche, 46 Treffer hat er in Deutschlands Beletage bis dato erzielt. Es hätten für den Stürmer, der 2016 in Rio mit Deutschland Olympia-Silber gewann, wohl noch ein paar mehr sein können, wenn Hertha BSC zu seinen Zeiten durch zu viel Geld und zu viel wirre Gedanken derer, die es ausgaben, nicht in einer Dauerkrise gewesen wäre.
In einer ohne Augenmaß zusammengekauften Mannschaft funktionierte der Angreifer, der sich zwischenzeitlich nach Bremen ausleihen ließ und mit Werder abstieg, irgendwann nicht mehr. Als der U21-Europameister von 2017 die "Alte Dame" im Januar 2023 ablösefrei in Richtung Köln verließ, zog eine Berliner Zeitung das ernüchternde Fazit: "Sowohl Hertha als auch Selke wirken irgendwie wie aus der Zeit gefallen."
Sonnabend HSV-Heimdebüt gegen Ex-Club Berlin
Am Samstagabend (20.30 Uhr, im Livecenter bei NDR.de) kommt es nun zum Wiedersehen für den Angreifer mit den Berlinern, für die er zwischen 2017 und 2023 mit halbjähriger Unterbrechung auflief. "Die Zeit bei Hertha war besonders. Vor allem wegen der Fans, die mich immer bedingungslos unterstützt haben", hatte der 29-Jährige bei seinem Abschied aus der Hauptstadt erklärt. Dass er gegen seine alte Liebe aus alter Verbundenheit halbherzig zu Werke gehen wird, ist dennoch unwahrscheinlich.
Selke will mit dem HSV dorthin, wo er selbst jahrelang spielte: in die Bundesliga. Die Vorzeichen für dieses Unterfangen scheinen gut. Coach Steffen Baumgart setzte schon zu gemeinsamen Kölner Zeiten auf den Vollblut-Stürmer. Und in Sportvorstand Stefan Kuntz, unter dem er in der deutschen U21 spielte, sowie Nachwuchschef Horst Hrubesch ("Ich liebe diesen Spieler") hat er weitere Fürsprecher an der Uwe-Seeler-Allee.
An Geborgenheit und Vertrauen wird es dem Mann mit dem "Bad-Boy-Image" also in Hamburg nicht mangeln. Und mit dem Ruf ist das ja ohnehin so eine Sache. Kapitän Sebastian Schonlau hat jedenfalls nicht den Eindruck, einen besonders schwierigen Charakter dazugewonnen zu haben: "Er lässt hier überhaupt nicht den dicken Max raushängen, sondern zeigt: Er ist hier, um zu helfen, um mit anzupacken."
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Hamburg Journal | 08.08.2024 | 19:30 Uhr