Florian Lipowitz bei der Vuelta Eine Neulanderkundung mit Bravour
Ex-Biathlet Florian Lipowitz verblüfft bei der Vuelta als bester Nachwuchsfahrer im Peloton und bester Helfer von Top-Star Primož Roglic.
Florian Lipowitz überrascht gegenwärtig sogar sich selbst. So weit wie jetzt stieß der frühere Biathlet in seiner Radsportkarriere noch niemals vor: Am Ende der zweiten Woche einer Grand Tour steckt er in den Top 10 der Gesamtwertung. Er trägt das Weiße Trikot des besten Nachwuchsfahrers. Und er hat sich im opulent besetzten Rennstall Red Bull-Bora-hansgrohe als engster Helfer des dreifachen Vuelta-Siegers Primož Roglic herauskristallisiert.
Für Lipowitz selbst war eine derartige Performance vor der Vuelta kaum vorstellbar. "Ich weiß selber nicht, was ich leisten kann. Das längste Rennen, das ich gefahren bin, waren, glaube ich, neun Tage", meinte er vor Beginn der dreiwöchigen Spanienrundfahrt zur Sportschau.
Der 23Jährige ging allerdings auch mit einer gehörigen Portion Optimismus in diese Grand Tour. Denn schon bei einwöchigen Rundfahrten hat er mitbekommen: "Gegen Ende werde ich eher besser. Nun bin ich gespannt auf drei Wochen und wie mein Körper darauf reagiert."
Bislang reagiert dieser Ausdauerathletenkörper famos. Am Sonntag dünnte Lipowitz mit einer Tempobeschleunigung am mörderischen Cuitu Negru mit bis zu 24 Prozent Steigung das Favoritenfeld aus. Den Parforceritt des Helfers nutzte Kapitän Roglic zu einem eigenen Angriff. Der brachte ihm wertvolle 38 Sekunden Vorsprung auf den Gesamtführenden Ben O’Connor ein - auch wenn er davon später 20 Sekunden wegen einer Strafe wieder einbüßte.
"Der ganze Tag war extrem hart, es war von Anfang an ein super hohes Tempo. Auf den letzten 3 km habe ich dann einen Angriff für Primož gestartet und alles gegeben. Wir haben heute alle eine gute Leistung gezeigt und sind dem roten Trikot schon viel näher gekommen", bilanzierte Lipowitz selbst.
Rarität Weißes Trikot
Was er zu erwähnen vergaß: Er musste auch selbst aufs Siegerpodium. Zum vierten Mal bereits erhielt er das Weiße Trikot des besten Jungprofis. Und wenn er weiter so macht, stets bei Roglic bleibt, dessen Attacken vorbereitet und am Ende mit den Besten über den Zielstrich rollt, kann er es auch in Madrid überstreifen. So etwas hat im deutschen Radsport Seltenheitswert.
Bei Vuelta und Giro gewann noch nie ein deutscher Profi die Nachwuchswertung, bei der Tour de France waren es lediglich Dietrich Thurau und Jan Ullrich, letzterer zwischen 1996 und 1998 sogar drei Mal.
Lipowitz klopft also bei einem illustren Klub an. Beim Rennstall selbst hält man das Weiße Trikot allerdings eher für ein störendes Nebengeschäft. "Wir haben keine Ambition auf Weiß. Wir sind nicht für Weiß hier, sondern ganz klar für Rot", sagte brummig Road Captain Nico Denz der Sportschau.
Abgeschirmtes Großtalent
Wie es Lipowitz selbst geht, weiß man nicht. Das Team schirmt ihn ab. Sogar bei der Vuelta selbst werden Journalisten abgehalten, Lipowitz direkt anzusprechen. Auch Road Captain Denz fährt sofort die Schutzschirme aus: "Er ist auf jeden Fall ein Megatalent. Aber ich denke, man muss jetzt einfach mal die Kirche im Dorf lassen und ihm Zeit geben und dann gucken, wo er sich hinentwickelt."
Talentpoben lieferte er reichlich ab bei dieser Spanienrundfahrt. Nicht nur auf der 15. Etappe, als er Roglics Attacke mustergültig vorbereitete. Auf der 9. Etappe war er sogar der Retter der Klassementambitionen seines Kapitäns. Denn der konnte einem Antritt seines spanischen Rivalen Enric Mas nicht folgen. Lipowitz wartete brav auf den Chef und schleppte ihn dann nach vorn. "Er war phantastisch an diesem Tag. Nur dank ihm konnte Primož die Lücke schließen und seinen zweiten Gesamtrang behaupten", meinte der sportliche Leiter Patxi Vila zur Sportschau.
Lehrgeld als Ausreißer
Lehrgeld musste Lipowitz bei dieser Vuelta allerdings auch zahlen. Auf der 6. Etappe war er in der Fluchtgruppe, die O’Connor an die Spitze des Klassements brachte. Dort konnte er aber den Australier nicht halten, der sich 62 Kilometer vor dem Ziel sogar noch aus der Gruppe löste und fünf Minuten auf die Verfolger und deren sechs auf das Hauptfeld herausfuhr. "Am Ende haben wir es in der Gruppe etwas vermasselt, weil keiner arbeiten wollte", schätzte Lipowitz selbst die Situation ein.
Höhepunkt einer Achterbahnsaison
Die Auftritte bei der Vuelta krönen eine Saison, die mit Krankheiten begann, einen ersten Höhepunkt mit einem dritten Gesamtrang bei der Tour de Romandie hatte, aber auch immer wieder durch gesundheitliche Rückschläge geprägt war. Seine erste Grand Tour, den Giro d’Italia, musste Lipowitz nach starkem Auftritt auf der ersten Bergetappe wegen einer Covid-Infektion verlassen. Dann kam er mit Platz zwei bei den deutschen Meisterschaften und dem Gewinn der Sibiu Tour bravourös zurück.
Für den deutschen Radsport ist es ein besonderes Glück, dass Lipowitz als junger Biathlet durch eine Verletzung zum Radsport als Rehasport kam und Gewehr und Ski danach in die Ecke stellte. "Skiroller im Sommer – das vermisse ich nicht", sagt er lachend. Jetzt folgt er den Spuren des ehemaligen Skispringers Roglic. Mal sehen, wozu das famose Umsteiger-Duo noch in der Lage ist.