Simon Geschke
interview

Der Routinier über seine letzte Tour Geschke: "Die Tour de France ist eine Hassliebe"

Stand: 08.07.2024 18:52 Uhr

Simon Geschke bestreitet in diesem Jahr seine letzte Tour de France. Im Interview mit der Sportschau spricht er über die Veränderungen im Radsport, wie die Tour seine Karriere prägte und warum er sie nicht vermissen wird.

Von Michael Ostermann, Orléans

Sportschau: Herr Geschke, erster Ruhetag bei der Tour de France 2024, ihrer letzten Tour. Erlaubt man sich an so einem Tag schon ein bisschen Wehmut?

Simon Geschke: Nein, Wehmut ist noch nicht da. Es ist jetzt noch Routine hier bei der Tour, weil ich ja schon so oft dabei war. Ich denke sowieso immer nur von heute auf morgen. Für mich ist das noch nicht so präsent, dass es wirklich das letzte Mal ist. Aber in den letzten Tagen beim Giro zum Beispiel oder auch bei den anderen Rennen, den Lieblingsrennen - der Tour Down Under oder Strade Bianche - da kam es dann doch so ein bisschen hoch, dass das jetzt der Abschied ist. Das wird bei der Tour sicherlich genauso sein.

"Die Tour hat mich sehr geprägt"

Sportschau: Wie würden Sie Ihr persönliches Verhältnis zur Tour de France beschreiben?

Geschke: Es ist das Rennen, das ich fast am häufigsten gefahren bin in meiner Karriere. Eines der Rennen, die mich sehr geprägt haben. Eines, weswegen ich Radfahrer werden wollte und das fast immer mein Jahreshöhepunkt gewesen ist. Also, eines der wichtigsten Rennen in meiner Karriere. Auch durch den Etappensieg natürlich. Und vor zwei Jahren bin ich dann noch mal eine sehr gute Tour gefahren, als ich fast das Bergtrikot gewonnen habe.

Sportschau: Sie sind 2009 zum ersten Mal bei der Tour gestartet. Welche Erinnerungen haben Sie noch daran?

Geschke: Die Zuschauermassen. Das war das, was ich vorher überhaupt nicht kannte. Ich bin vorher gar nicht so viele große Rennen gefahren und dann zur Tour gekommen. Das Niveau kannte ich so überhaupt nicht. Es war ja mein erstes Jahr als Profi. Da wurde ich ein bisschen ins kalte Wasser geworfen. Das war sehr schön, aber auch sehr ernüchternd zu merken: Okay, hier hat man eigentlich gar nichts verloren. Ich bin zwar durchgefahren, aber es war gar nicht daran zu denken, mal irgendwie in eine Ausreißergruppe zu gehen. Ich kam als guter Bergfahrer aus der U23 und war dann jeden Tag im Grupetto.

"Der Stärkste wird immer verdächtig aussehen"

Sportschau: Damals lag der Radsport wegen der Dopingskandale am Boden. Keine leichte Zeit für einen Neoprofi.

Geschke: Ja, damals war fast das Jahr Null. Aber von da an ging es stetig bergauf, weil es im Radsport ein Erwachen gab, dass noch mehr Skandale den Sport komplett von der Bildfläche verschwinden lassen könnten. Es hat eine Weile gebraucht, aber die Akzeptanz ist jetzt wieder da. Und der Sport an sich ist ja trotzdem ein schöner Sport. Ohne Doping noch schöner als vorher. Wenn man ruhig schlafen kann und nicht denken muss, dass es Razzien gibt oder am Ruhetag eine Meldung kommt, Pogacar ist positiv oder was auch immer.

Ob die Glaubwürdigkeit jetzt zu 100 Prozent wieder da ist für die breite Masse, weiß ich nicht. Es gibt immer noch genug Leute, die denken, ohne geht es gar nicht und alle 180 Fahrer am Start nehmen irgendwas, um durchzukommen. Aber so ist es halt nicht. Ich weiß natürlich nicht, was andere zu Hause machen, aber auf dem Level, auf dem ich sauber fahre, denke ich nicht, dass alle anderen was nehmen. Sonst wäre ich ein Jahrhunderttalent (lacht).

Es gibt sicherlich immer noch Probleme, aber in sehr viel kleineren Dimensionen als damals. Flächendeckend, wie es früher war, das gibt es meiner Meinung nach überhaupt nicht mehr. Ich denke, das ist den Leuten, die sich mit dem Sport auseinandersetzen, auch bewusst. Klar, man muss das immer kritisch beobachten. Aber was ich halt auch immer sage: Der Stärkste wird immer verdächtig aussehen, weil er der Stärkste ist.

"Die Tränen würden heute wieder kullern"

Sportschau: 2015 haben Sie in Pra Loup eine Bergetappe der Tour gewonnen - ihr größter Erfolg. Wie blicken Sie heute auf diesen Tag zurück?

Simon Geschke bejubelt seinen Etappensieg bei der Tour de France 2015

Simon Geschke bejubelt seinen Etappensieg bei der Tour de France 2015

Geschke: Dann erschrecke ich erstmal, dass das schon so lange her ist. Aber es ist der Moment meiner Karriere, der alles andere in den Schatten stellt. Unvergesslich. Wenn ich jetzt das Video sehen würde, würde ich wahrscheinlich immer noch eine Gänsehaut kriegen. Für diesen einen Tag hat sich alles gelohnt, was ich bis dahin gemacht habe. Es gab ja vieles, das überhaupt keinen Spaß gemacht hat, um Profi zu werden. Nach der Schule Hausaufgaben und dann drei, vier Stunden trainieren. Das Training im Winter im Dunkeln. Nebenbei Abitur gemacht, Führerschein irgendwie auch. Das waren ja alles keine schönen Jahre in meiner Jugend, wenn ich so daran zurückdenke. Aber an dem Tag war das dann alles vergessen.

Sportschau: Und die Tränen damals?

Geschke: Die würden heute wieder genauso kullern, glaube ich (lacht).

"Das ist immer noch eine ganz bittere Pille"

Sportschau: Vor zwei Jahren haben Sie das Publikum mit dem tagelangen Kampf um das Bergtrikot begeistert, den Sie dann auf der letzten Bergetappe knapp an den Toursieger Jonas Vingegaard verloren haben. Auch da gab es Tränen. Wie lange haben Sie gebraucht, diese Enttäuschung zu verarbeiten?

Geschke: Die ist immer noch da. Gerade hier bei der Tour denke ich mir immer noch manchmal: Das war so eine Riesenchance. Es wurmt mich immer noch extrem. Vor allem weil es Situationen gab, die ich im Nachhinein anders beurteilen würde, wo ich Fehler gemacht habe, wo man im Nachhinein sagt, wenn du das an dem Tag so und so gemacht hättest... Ich wäre der erste Deutsche überhaupt gewesen, der das Bergtrikot gewonnen hätte. Da hätte ich mir persönlich ein Denkmal setzen können. Das wäre fast noch höher einzuordnen gewesen als der Etappensieg. Der passiert an einem Tag. Aber das Bergtrikot, dafür musste ich fast zwei Wochen arbeiten. Das ist ja fast wie auf Gesamtwertung fahren. Von daher ist es immer noch eine ganz bittere Pille. Die Chance kommt nie wieder.

Simon Geschke küsst das Bergtrikot bei der Tour de France 2022

Unerfüllte Liebe: Simon Geschke im Bergtrikot 2022

Sportschau: Dieser Kampf und vielleicht gerade auch die knappe Niederlage haben Ihnen aber auch eine Menge Popularität eingebracht.

Geschke: Ich hätte gerne etwas von der Popularität abgegeben, wenn ich dafür die Wertung gewonnen hätte. Dann hätte ich mir das Trikot wahrscheinlich auch zu Hause eingerahmt. So liegt es jetzt nur im Bettkasten.

Sportschau: Jetzt bleiben Ihnen noch zwei Tourwochen. Welchen Simon Geschke werden wir dort sehen?

Geschke: Hoffentlich einen sehr offensiven. Ich will schon noch mal noch mal zeigen, dass ich mit 38 Jahren bei der Tour noch was verloren habe, sonst wäre ich jetzt nicht hier. Ich hoffe einfach, dass ich nochmal in eine Ausreißergruppe gehen kann und am besten natürlich mit Ergebnissen nach Hause gehe. Top zehn, Top fünf bei einer Etappe wäre für mich schon etwas, auf das ich ziemlich stolz wäre. Wenn es dafür nicht reicht, dann probiere ich einen guten Job für Guillaume (Martin, Anm. d. Red.) zu machen, der auf die Top Ten in der Gesamtwertung fährt. Aber wie gesagt, ich werd's probieren, in den Bergen nochmal in der Gruppe zu sein und dann hoffentlich auch noch mal ein bisschen TV-Time zu bekommen und im besten Fall noch mal vorne zu landen.

"Es erinnert mehr und mehr an Raumschiff Enterprise"

Sportschau: Und wenn Sie dann auf die vergangenen 15 Jahren bei der Tour zurückblicken. Was hat sich verändert?

Geschke: Die sehr wissenschaftsbasierte Fahrweise. Das ging los mit dem Team Sky und wurde von Jumbo oder jetzt Visma kopiert und übertroffen. Auch das Material ist ein Riesenthema. Wenn man sich auf ein Rad von vor zehn Jahren setzt, fährt man mit der gleichen Leistung zwei km/h weniger. Von den Rädern aus den Neunzigern will ich gar nicht reden. Wenn immer alle fragen: Wie kann das sein, dass ihr genauso schnell fahrt wie damals zu den schlimmsten Dopingzeiten? Da frage ich mich eher, wie die auf dem Material genauso schnell fahren konnten wie wir jetzt. Die müssen ja zum Teil 100 Watt mehr getreten haben auf der Fläche.

Es ist unfassbar schnell geworden. Und es erinnert mehr und mehr an Raumschiff Enterprise. Was die Aerodynamik angeht, wird alles ein bisschen verrückter. Jetzt fährt einer mit so einem Ding auf der Nase, was wohl aerodynamischer sein soll. Ich hoffe, irgendwann ist dann auch mal Schluss mit verrückten neuen Sachen.

"Es werden definitiv mehr Risiken eingegangen"

Sportschau: Mit den höheren Geschwindigkeiten wächst auch das Risiko. Die Sicherheit im Radsport ist gerade wieder ein großes Thema. Im vergangenen Jahr starb der Schweizer Radprofi Gino Mäder nach einem Sturz bei der Tour de Suisse, vor zwei Tagen verunglückte der junge Norweger André Drege bei der Österreich-Rundfahrt tödlich. Macht man sich da im reiferen Radsportalter mehr Gedanken als früher?

Geschke: Während meiner Karriere sind einige Fahrer gestorben. Zweimal war ich auch direkt mit dabei. Bei der Polen-Rundfahrt (Der Belgier Bjorg Lambrecht starb dort 2019 an den Folgen eines Sturzes, Anm. der Red.) und letztes Jahr bei der Tour de Suisse. Das geht einem dann nochmal deutlich näher. Und man ist nicht mehr so wild wie mit Anfang 20, dass man das dann einfach so abschüttelt und sagt: Mich wird es schon nicht treffen. Da macht man sich jetzt schon ein bisschen mehr Gedanken

Sportschau: Werden mehr Risiken eingegangen als früher?

Geschke: Es werden definitiv mehr Risiken eingegangen. Die Fahrweise mancher Fahrer nach dem Motto - wer bremst, verliert - das ist in den letzten Jahren noch ein bisschen stärker geworden. Wobei bei Gino, glaube ich, bis heute nicht so richtig rausgekommen ist, was genau passiert ist. Und bei dem Norweger war es wohl ein Reifenplatzer. Das ist dann Schicksal, ein Unfall. Das wird es immer geben.

Natürlich sollte das Risiko so weit wie möglich begrenzt werden. Vielleicht muss sich auch das Material wieder ein bisschen in eine andere Richtung entwickeln und nicht immer nur in Richtung schneller und leichter. Man kann den Radsport aber auch nicht komplett ändern. Sonst kann man keine Berge mehr fahren, weil das halt immer gefährlich bleibt.

"Ich freue mich sehr auf die Zeit danach"

Sportschau: Auch Ernährung und Leistungsdaten werden penibel erfasst. Jeder Radsportler wird durchleuchtet. Fühlt man sich da nicht wie eine Marionette der Wissenschaft?

Geschke: Die Marionette der Wissenschaft waren wir schon immer. Aber es ist schon sehr viel extremer geworden in den letzten zehn Jahren. Viel extremer geht es gar nicht mehr, weil viele Fahrer inzwischen auch schon sehr überfordert sind. Also ich zumindest. Man muss dann halt gucken, was man davon mitmacht. Alles geht fast nicht, sonst müsste man sich den ganzen Tag immer mit den neuesten Studien beschäftigen.

Sportschau: Sind Sie darum vielleicht auch ganz froh, dass es dann Ende des Jahres vorbei ist?

Geschke: Ja, ich freue mich sehr auf die Zeit danach. Diesen Stress nicht mehr zu haben und auch mal sagen zu können, ich mache zwischen Januar und November Urlaub und nicht nur im Oktober, November, wenn die Saison vorbei ist. Dass man machen kann, was man will, keine Dopingkontrollen mehr morgens um sechs usw.. Also da gibt es definitiv ein paar Sachen, die ich nicht vermissen werde.

Sportschau: Werden Sie die Tour vermissen?

Geschke: Das glaube ich weniger. Zwölf Mal reicht dann auch langsam. Es ist halt auch zu einem gewissen Grad eine Hassliebe, weil man die Tour auch verflucht. Es macht ja nicht alles Spaß an der Tour. Es gibt 21 Etappen, aber es gibt keinen Fahrer, für den alle Etappen spannend sind. Bei manchen Etappen geht es wirklich nur ums Durchkommen. Was für die Sprinter die Bergetappen sind, sind für mich die Flachetappen. Die sind ja für mich immer nur von A nach B kommen. Und dann in dem Gewühl - da fährt man die ganze Zeit mit einem Bremshebel hinten am Arsch rum, weil da alle so eng beieinander fahren. Und vorne ist nur Ellenbogen ausfahren. Das werde ich nicht vermissen.