Strade Bianche
Tourreporter

9. Etappe der Tour de France Die Angst vor den Schotterpisten

Stand: 06.07.2024 21:53 Uhr

Vor dieser Etappe fürchten sich die Favoriten im Kampf um das Gelbe Trikot. Das 9. Teilstück führt über 32 Kilometer Schotterstraßen. Man kann die Tour hier nicht gewinnen, aber verlieren. Viele hätten das Spektakel deshalb lieber gar nicht erst im Programm.

Von Michael Ostermann, Colombey-Les-Deux-Églises

Und jetzt auch noch das Wetter. Rund um Troyes hat es am Samstag (06.07.2024) geregnet. Statt Staub wartet nun wohl eher ein schmieriger Untergrund. Aber das macht dann auch keinen Unterschied mehr. "Wenn sowieso schon alles doof ist, ist auch egal, ob es noch mehr doof ist", sagt Rolf Aldag, Sportlicher Leiter bei Team Red Bull-Bora-hansgrohe. Und doof - das ist die einhellige Meinung zumindest all derer, die einen Klassementfahrer in ihren Reihen haben - ist das, was auf der 9. Etappe der Tour de France wartet, ja ohnehin.

32 Kilometer Schotter verteilt auf 14 Sektoren

Über 199 Kilometer rund um Troyes führt das neunte Teilstück der Tour de France, hügeliges Terrain in der Champagne. Aber das alles ist nicht das Problem. Es geht um die 32 Kilometer Schotterwege, verteilt auf 14 Abschnitte durch die Weinberge der Region. In manchen Sektoren geht es bergauf, andere sind flach, sechs davon liegen innerhalb der letzten 35 Kilometer, der längste ist 4,2 Kilometer lang, der letzte Sektor endet 6,5 Kilometer vor dem Ziel.

Diese Wege werden normalerweise von den örtlichen Winzern genutzt. Doch am Sonntag soll nun das Peloton der Tour über diesen steinigen Untergrund preschen. Muss das sein? "So etwas gehört nicht in die Tour, schimpft Patrick Lefevere, wenn man ihn auf diese Etappe anspricht. Der Teamchef der Equipe Soudal-Quick Step hat mit Remco Evenepoel einen der Mitfavoriten auf das Gelbe Trikot unter Vertrag.

Deshalb ist der Belgier besonders verärgert, denn diese Etappe kann einem zwar nicht die Tour gewinnen, aber man kann sie eben verlieren an einem solchen Tag mit vielen Unwägbarkeiten. Ein Defekt an der falschen Stelle oder ein Sturz können entweder viel Zeit kosten oder gar gleich das Ende der Tour bedeuten.

Ralph Denk hat "Bauchschmerzen"

Vor allem beim deutschen Team Red Bull-Bora-hansgrohe fürchten sie diesen Tag, denn ihr Podiumsanwärter Primoz Roglic bringt nicht zwingend die Statur mit für solche Rennen, die er ansonsten weiträumig umfährt. Anders als etwa sein Landsmann Tadej Pogacar, der gerne auch die schwierigen Klassiker im Frühjahr in Angriff nimmt.

"Bauchschmerzen" habe er vor diesem Tag, hat Red Bull-Bora-hansgrohe-Teamchef Ralph Denk bereits in einem Gespräch Ende Mai betont, als es eigentlich darum ging, ein Fazit des Giro d'Italia zu ziehen. Auch er gehört zu den Gegnern solcher Etappen bei der Tour. Genau wie sein Sportlicher Leiter Rolf Aldag, "weil es dann einfach ganz, ganz viel auf Glück basierend ist und nicht auf Können". Man werde an diesem Tag nicht den Toursieger finden. "Aber es kann ganz viele Tourverlierer geben", fürchtet Aldag.

Gravel boomt, die Tour will Teil davon sein

In der Tat ist das Risiko nicht gering, dass sich die Amaury Sport Organisation (ASO) als Veranstalter mit dieser Etappe selbst um den auch von ihr erhofften Vierkampf um das Gelbe Trikot bringt. Denn nicht nur Primoz Roglic fühlt sich auf diesem Terrain nicht wohl. Auch Vorjahressieger Jonas Vingegaard, ein kleiner, leichtgewichtiger Kletterer, ist nicht unbedingt gemacht für Gravel. Dass die ASO das Risiko dennoch eingeht begründen sie damit, dass auch Gravel eben eine Facette des Radsports sei, die sich natürlich auch beim wichtigsten Radrennen der Welt wiederfinden müsse.

Tatsächlich boomt die Gravelsparte des Radsports. Die Räder mit den breiteren Reifen verkaufen sich seit Jahren prächtig und die entsprechenden Rennserien sind populär. "Ich bin ja selbst begeistert von Gravel. Das ist eine tolle Community, sind tolle Menschen, die das machen - pure racing", sagt Rolf Aldag. "Das ist für die alle total super, aber nicht in für uns bei der Tour."

Vingegaards Sportlicher Leiter besichtigt schon im November

Wie bei der deutschen World-Tour-Mannschaft fürchten sie auch beim Team Visma-Lease-A-Bike von Jonas Vingegaard den Faktor Zufall an diesem Tag. "Für ein Klassement-Team ist das dann meist ja nicht so toll, wenn man sie ein halbes Jahr auf die Tour vorbereitet", sagt der Sportliche Leiter des Teams Grischa Niermann. Bei der niederländischen Equipe gelten sie als besonders präzise, sie achten dort auf jedes Detail und arbeiten dann nach einem strikten Plan. Chaos ist da nicht gerne gesehen.

Aber natürlich haben sie sich bei Visma-Lease-A-Bike auch auf diese Etappe vorbereitet. Niermann ist das Teilstück bereits im vergangenen November abgefahren, als die Strecke der diesjährigen Tour de France gerade erst ein paar Wochen bekannt war. Es hat seitdem ein paar Anpassungen gegeben, aber im Frühjahr haben sie die Strecke dann noch einmal mit den Fahrern besichtigt. Allerdings ohne Vingegaard und Wout van Aert, die beide wegen ihrer Sturzverletzungen nicht trainieren konnten.

Klassikerspezialisten für die Kapitäne

Dabei wird es vor allem auf den Klassikerspezialisten Wout van Aert ankommen, um den Dänen sicher auf und durch die Gravel-Abschnitte zu führen. Auch die anderen Teams haben tempoharte Helfer zum Schutz ihrer Kapitäne dabei. Um Tadej Pogacar werden sich vornehmlich der Belgier Tim Wellens und Nils Politt aus Hürth kümmern, Primoz Roglic vertraut auf die Dienste des Österreichers Marco Haller und des Tourdebütanten Nico Denz.

Auch bei Red Bull-Bora-hansgrohe haben sie sich auf diesen Tag besonders vorbereitet. Am vergangenen Freitag haben sie noch einmal einen Mitarbeiter mit einer Kamera über die Schotterabschnitte geschickt. Die Bilder haben die Furcht eher steigen lassen. Von dem "gepflegten weißen Schotter", den Tour-Streckenchef Thierry Gouvenou im offiziellen Programm der Tour angekündigt hatte, war jedenfalls laut Aldag nichts zu sehen.

"Ganz grobes Material"

Stattdessen sei da jetzt "ganz ganz grobes Material" draufgekippt worden. Die ASO sei selbst überrascht gewesen über die Bilder, berichtete Aldag: "Ich hoffe mal einfach, dass sie alles so machen, dass es echt fahrbar ist." Diese Hoffnungen tragen sicher alle in sich. Denn selbst Tadej Pogacar, der Mann im Gelben Trikot, glaubt, dass diese Etappe "kein großer Spaß wird". Dabei muss er sich von den Favoriten wohl am wenigsten Sorgen machen.

Im März hat er das bekannteste Straßenradrennen, das auch über Schotter führt - die Strade Bianche in Italien - mit einem atemberaubenden 80-Kilometer-Solo gewonnen. "Vieles wird davon abhängen, wie wir das Rennen angehen", sagt Pogacar. Soll heißen, je hektischer die Sache wird desto größer wird der Faktor Glück.

"Es wird ein stressiger Tag", sagt der Slowene. Danach folgt der erste Ruhetag der Tour, den dann sicher alle gut werden gebrauchen können. "Aber danach kommt der nächste stressige Tag und dann wieder ein stressiger Tag." So wird es dann weitergehen bis nach Nizza, wo die Tour am 21. Juli endet. Wie? Dieser Tag in der Champagne könnte darüber mitentscheiden.