Debüt für Bora-hansgrohe bei Paris-Nizza Primoz Roglic - Start in die Mission Gelb
Primoz Roglic ist die neue Nummer eins beim deutschen Radrennstall Bora-hansgrohe. Und der Slowene verfolgt dabei vor allem ein Ziel: den Sieg bei der Tour de France. Bei Paris-Nizza beginnt heute das Teambuilding für das große Ziel.
Ein ganzes Tal schien in eine einzige Farbe getaucht. Dicke gelbe Rauchschwaden aus bengalischen Feuern zogen über die Landstraße nordwestlich des Dorfes Kisovec, die kleine Betonbrücke über das Flüsschen Medija hatten sie gelb angestrichen. Als Primoz Roglic von der Tour de France in sein Elternhaus zurückkehrte, feierten ihn die Leute draußen vor der Tür - Fans, Freunde, Familie - wie einen Sieger. Dabei hatte er die drei Wochen durch Frankreich nur als Vierter beendet. Aber es war ein Versprechen auf mehr - auf den ersten Sieg eines Slowenen beim wichtigsten Radrennen der Welt. Das war im Jahr 2018.
Zwei Jahre später stand der einstige Skispringer ganz kurz vor dem großen Triumph - aber im Einzelzeitfahren auf der vorletzten Etappe überholte ihn der der neun Jahre jüngere Landsmann Tadej Pogacar völlig überraschend noch im Gesamtklassement und entriss ihm das Gelbe Trikot. Eine riesige Enttäuschung - für ihn und sein Team.
Langsam läuft dem 34-jährigen Roglic die Zeit weg, um die Erwartungen und Hoffnungen seiner Fans noch zu erfüllen. Aber er will es mit letzter Kraft versuchen: "Ich habe eine Chance und ich glaube daran", sagte der Slowene in einem Interview mit der französischen Sportzeitung L'Équipe vor dem Saisonstart über einen möglichen Sieg bei der Tour de France in diesem Jahr. Die vielleicht letzte Chance bietet ihm der deutsche Rennstall Bora-hansgrohe, wo er nach acht Jahren beim niederländischen Team Jumbo-Visma (jetzt Visma-Lease a bike) einen Vertrag bis einschließlich 2025 unterschrieben hat.
Denk und Aldag glauben an den großen Triumph
Jetzt wird es ernst. Bei Paris-Nizza (3. bis 10. März 2024) bestreitet der Neuzugang sein erstes Rennen im neuen Trikot. Glaube versetzt Berge, heißt es - aber, ob Roglic tatsächlich im Sommer drei Wochen lang in das Duell der zuletzt herausragenden Tadej Pogacar (Tour-Sieger 2020 und 2021) und Jonas Vingegaard (2022 und 2023) eingreifen kann, über zahlreiche Pässe in den Alpen und den Pyrenäen?
Teamchef Ralph Denk und Sportchef Rolf Aldag glauben ausdrücklich daran, dass "Rogla" nach drei Siegen bei der Vuelta (2019-2021) und dem Triumph beim Giro d'Italia 2024 eine realistische Chance hat, dass ihm nun auch der ganz große Triumph gelingt, der ihm noch fehlt. Den Glauben hatte sein letzter Arbeitgeber Jumbo-Visma wohl verloren - dort war Vingegaard in der Teamhierarchie vorbeigezogen. Zudem setzt man dort schon auf die nächste Generation wie den von Bora abgeworbenen Belgier Cian Uijtdebroeks.
Frustrierende letzte Saison bei Jumbo
Im vergangenen Sommer hatte Denk im Interview mit der Fachzeitschrift "TOUR" gemeint, ihm fehle noch der geeignete Rennfahrer für sein großes Karriereziel, mit seinem eigenen Rennstall das größte Radrennen zu gewinnen. Im Oktober konnte er den Vollzug melden: Roglic suchte eine neue Herausforderung und fand sie bei Denk.
Am alten Arbeitsplatz war er nicht mehr zufrieden. Dort wurde ihm im vergangenen Jahr erst der Tour-Start verwehrt, dann die Chance auf den vierten Vuelta-Sieg, weil die Teamorder verlangte, dass man das Führungstrikot des langjährigen Edelhelfers Sepp Kuss mit vereinten Kräften verteidigt. Am Ende gab es einen Dreifach-Triumph des überragenden Rundfahrer-Teams Jumbo-Visma: Kuss vor Vingegaard und Roglic, der selbst teamintern nur noch der dritte Mann war.
Teambuilding unter Wettkampfbedingungen
Im neuen Dress ist Roglic nun die Nummer eins. Und daran müssen sich alle gewöhnen. Bei Paris-Nizza beginnt das Teambuilding unter Wettkampfbedingungen: Man muss binnen weniger Monate eine Leibgarde für das große Ziel im Sommer formieren, das mit den herausragenden Mannschaften Visma-Lease a bike (Vingegaard) und UAE Team Emirates (Pogacar) mithalten kann - in jeder Rennsituation.
Aldag und Roglic müssen dabei auch Moderationstalent beweisen und Überzeugungsarbeit leisten. Denn schließlich dürfen nicht nur Chefs an den ganz großen Coup im Juli glauben - gerade wegen des fortgeschrittenen Alters des Hoffnungsträgers. Schließlich wäre Roglic im Erfolgsfall der älteste Tour-Sieger nach dem 2. Weltkrieg, wenige Monate älter als Cadel Evans im Jahr 2011.
Immerhin sollen sich hoch veranlagte Rennfahrer im Team wie der australische Giro-Sieger Jai Hindley, der Tour-Fünfte von 2022 Alexander Vlasov aus Russland und der deutsche Tour-Etappensieger Lennard Kämna ganz in den Dienst des Neuankömmlings stellen - ohne eigene Ambitionen. Deutschlands zuletzt bester Spezialist für Etappenrennen, der Tour-Vierte von 2019 Emanuel Buchmann, muss gar zum Giro d'Italia ausweichen.
Nico Denz als Leibwächter
Ein weiteres Problem, das nicht unbedingt grenzenloses Vertrauen rechtfertigt: Roglic hat auch einen Ruf als ewiger "Bruchpilot". Durch Stürze bei Paris-Nizza 2021 und bei der Vuelta 2022 vergab er jeweils die Chance auf den Gesamtsieg. Und auch bei seinen letzten Tour-Starts 2021 und 2022 hatte er deftigen Bodenkontakt und gab später auf.
Und das ist nur eine kleine Auswahl von schmerzhaften Erfahrungen, die der ehemalige Skispringer regelmäßig im Radsport macht. Nico Denz ist einer der neuen Leibwächter, die die Aufgabe haben, den Kapitän aus gefährlichen Situation herauszuhalten. Der Giro-Etappensieger, am Hochrhein zuhause, geht als einziger Deutscher mit Zeitfahr-Olympiasieger Roglic auf die erste Bewährungsprobe bei Paris-Nizza.
Auch Evenepoel und Bernal am Start
Vermutlich wird man bei Bora-hansgrohe froh sein, dass auf den acht Etappen inklusive eines Mannschaftszeitfahren und taktisch kniffligen Tageabschnitten kein Kräftemessen mit den beiden Tour-Topfavoriten Vingegaard und Pogacar droht. Beide haben sich für ein anderes Rennprogramm entschieden. Aber es könnte schon um erste Punktsiege im Kampf um die Rolle als erster Herausforderer gehen. Schließlich hat der belgische Tour-Mitfavorit Remco Evenepoel (Team Soudal-Quick Step) genauso für das “Rennen zur Sonne” gemeldet wie der Tour-Sieger von 2019, Egan Bernal (Kolumbien).
Primoz Roglic
Im seinem Bora-Rennstall ist man jedenfalls spürbar angespannt. Die Anfrage der Sportschau nach Gesprächspartnern wenige Tage vor Paris-Nizza lehnte der Pressesprecher ab. Man wolle sich ungestört auf das erste Rennen vorbereiten. Ruhe vor dem Gipfelsturm? Die Erwartungen für die ersten gemeinsamen Renneinsätze hatte Roglic vorausschauend schon im Januar bei den Pressegesprächen im Trainingslager gedämpft: “Bisher bin ich fast immer in Rennen gegangen, um zu gewinnen. Das könnte sich dieses Jahr ändern. Der Fokus liegt auf der Tour.” Jetzt müssen Worten Taten folgen.