Giro d’Italia Lennard Kämna - Experiment mit hoffnungsvollem Ausgang
Lennard Kämnas Transformation zum Klassementfahrer macht bei diesem Giro d’Italia Fortschritte. Der Bremer hält sich über die gesamten drei Wochen konstant in der erweiterten Weltspitze auf. Mit einem exzellenten Bergzeitfahren am Samstag (27.05.2023) könnte er sogar in den illustren Kreis von deutschen Radsportlegenden wie Kurt Stöpel und Dietrich Thurau vordringen.
Lennard Kämna macht einen ziemlich aufgeräumten Eindruck bei diesem Giro d’Italia. Auf den Bergetappen der dritten Woche kam er als Erster seines Teams im Ziel an. Er setzte sich dann allein auf die Rolle, und noch bevor die Teamkollegen eintrafen, hatte er meist auch den Nebenjob Interview-Geben locker absolviert. "Ich kann ganz zufrieden sein, wie es bisher bei diesem Giro für mich lief. Alles passt", sagte er der Sportschau, und bewegte die Beine weiter, um sich das Laktat aus denselben zu fahren.
Kämna hat Historisches vor Augen
Kämna beeindruckte vor allem in dieser dritten Woche. Die Kameras fingen zwar selten ein, was er da machte. Denn die blieben vor allem an den Besten Drei dieses Giro dran: Geraint Thomas, Primoz Roglic und Joao Almeida. Deren Hinterräder konnte der Bremer im Finale meist nicht halten. Aber dahinter fuhr er ein schlaues Rennen.
Der Bora hansgrohe-Profi liess sich nicht mehr verführen von dem heißen Rennfahrerblut, das in seinen Adern pocht, wie es ihm noch in der ersten Woche geschah. Auf der achten Etappe überzog er, versuchte, mit Roglic, Thomas & Co mitzugehen, verlor dann aber an Zeit. "Ich war da zu euphorisch", schätzte er selbstkritisch ein. "Lennard hat daraus gelernt. Ich muss ihn jetzt nicht mehr vom Auto aus bremsen. Er weiß selbst, was er zu tun hat", sagte ein paar Tage später sein sportlicher Leiter Enrico Gasparotto befriedigt der Sportschau.
Die Ereignisse gaben ihm recht. Auf dem Weg nach Val di Zoldo am Donnerstag teilte Kämna sich die Kräfte so gut ein, dass er manche seiner direkten Konkurrenten, die sich verkalkuliert hatten, wieder einholen konnte. Er kam bis auf Gesamtplatz sechs vor - und hatte etwas ganz Historisches vor Augen: Besser als auf einen fünften Gesamtrang kam nie einer von den insgesamt 163 deutschen Giro-Teilnehmern. Im fernen Jahr 1932 gelang das Kurt Stöpel, 1983 Dietrich Thurau.
Rückschlag auf den Drei Zinnen
Auf der Königsetappe am Freitag durch die Dolomiten zu den gefürchteten Drei Zinnen erlitt Kämna dann aber einen Rückschlag. Vier Kilometer vor dem Ziel musste er abreißen lassen und fiel auf Platz acht zurück. "Der steile Berg am Ende war dann ein bisschen zu steil für mich. Ich hätte mir auch gewünscht, weiterhin auf sechs oder mindestens sieben zu sein. Jetzt ist es acht. Das stört mich schon ein bisschen, wenn ich ehrlich bin", erklärte er.
Trotzdem fällt die Bilanz eher positiv aus. Bei Kämna wie auch bei seinen Chefs. "Es ist völlig egal, ob er jetzt auf Platz fünf oder acht rauskommt. Die Kernfrage, die man sich stellen muss und was man mit ihm analysieren muss, ist: Hat er das Potenzial für das Projekt Klassement-Fahren oder lässt man eher Lenni Lenni sein", meinte Teamchef Ralph Denk zur Sportschau.
Für Denk scheint die Sache ziemlich klar zu sein. Er sieht, dass der einstige Etappenjäger Kämna mit Tagessiegen bei Tour de France und Giro d’Italia das Potential als Rundfahrer für Grand Tours hat. "Er ist das größte Talent, das wir derzeit in Deutschland haben", betonte Denk.
Er will aber auch dem Rennfahrer Zeit lassen, die Erfahrungen vom Giro zu verarbeiten. "Das wird sicherlich die Aufgabe der nächsten Wochen, erstmal alles sacken zu lassen. Und wir sind so demokratisch, dass er sagen darf, will er den Weg weiter verfolgen oder nicht. Wir wollen ihn da nicht in eine Schublade zwängen", versicherte der ansonsten ziemlich durchsetzungsstarke Oberbayer.
Positive Gesamtbilanz
Kämna jedenfalls hat gezeigt, dass ihn das Abenteuer Klassement bei großen Rundfahrten lockt. Die ganzen Bedenken, dass der Attackefahrer Kämna bei der Umstellung aufs eher vorsichtige Klassement-Fahren die Lust verlieren könnte, haben sich als haltlos erwiesen. Wird Kämna damit konfrontiert, reagiert er eher ungehalten. "Ich wusste schon letztes Jahr im Dezember, dass ich hier beim Giro nicht anfangen werde, vorneweg zu attackieren auf den Bergetappen, sondern dass ich erstmal dranbleiben muss. Das tut mir jetzt nicht weh, sondern ist Teil des Prozesses", sagte er.
Bekannte Dinge im Transformationsprozess
Und dann ist ja auch nicht alles neu für ihn. Manche Aspekte ähneln sogar dem, was Kämna auch als Ausreißerkönig beherrschen musste: Wie nah man ans eigene Limit gehen kann, um die Rivalen auf Distanz zu halten, ohne den Organismus so zu überlasten, dass die Muskeln nicht mehr weiter arbeiten können. "Das Pacing ist vor allem Erfahrungssache. Du kennst deinen Körper irgendwann relativ gut. Dann weißt du, wo das Limit ist. Und im Grunde ist das nichts anderes, als in der Ausreißergruppe zu fahren. Da muss ich ja auch überlegen, wie ich mir meine Kräfte einteile, damit ich am Ende gewinnen kann."
Nach der Königsetappe am Freitag muss er etwas umsteuern. Den einen oder anderen Platz möchte er beim Zeitfahren am Samstag aber doch gut machen. Die Historie gibt ihm recht. Gegenüber den meisten Kontrahenten, die rings um ihn auf den Plätzen vier bis neun innerhalb von zwei Minuten liegen, war er bei den Zeitfahren in den letzten drei Jahren schneller. Festlegen auf ein Ergebnis will sich Kämna aber nicht. "Ob mir das Profil des Zeitfahrens liegt, weiß ich erst, nachdem ich es gefahren bin", meinte er trocken.
Zeitfahren auf unbekanntem Terrain
Vor dem Giro konnte er sich kein direktes Bild von der Strecke machen. "Als wir da waren, lag noch der Schnee. Man konnte nichts erkennen. Von den Videos des Veranstalters wissen wir, dass es eine Betonstraße ist, die steil hinaufführt", sagte der sportliche Leiter Jens Zemke zur Sportschau. Wichtig werde, beim Flachstück am Anfang nicht zu euphorisch zu sein und zu überpacen, warnte Rennstallchef Denk.
Dass er ein gutes Gefühl fürs Pacen hat, hat Kämna bei diesem Giro mehrfach bewiesen. Von daher besteht durchaus Hoffnung für das letzte große Abenteuer bei diesem Giro. 18,6 km misst das Bergzeitfahren von Tarvisio hoch zum Monte Lussari. Die ersten zehn Kilometer sind nur leicht ansteigend. Die letzten acht haben es mit Maximalsteigungen von 22 Prozent aber in sich.
Pacing-Krimi auch im Kampf um Rosa
Konzentriert sich Kämna vor allem auf das Rennen um die Plätze vier bis neun, so ist im Kampf um den Gesamtsieg noch alles offen. Die ersten Drei liegen innerhalb einer Minute. Leicht favorisiert ist Zeitfahrolympiasieger Primoz Roglic. Der Slowene muss 26 Sekunden auf Thomas gut machen. Er bewies zuletzt auch aufsteigende Form. Im Bergaufsprint der letzten 200 Meter an den Drei Zinnen nahm er Thomas drei Sekunden ab. Exzellent pacen zu können wird auch für sie zur Schlüsselkompetenz an diesem entscheidenden Tag des 106. Giro d’Italia.