Mögliche Wendung im Fall China WADA prüft neue Verdachtsmomente nach ARD-Recherchen
Zum Auftakt der Olympischen Spiele muss die Welt-Anti-Doping-Agentur mitansehen, wie ihr Umgang mit Dopingverdachtsfällen in China zu einem massiven Vertrauensverlust geführt hat. Nun prüft sie neue Hinweise der ARD.
Kurz nach der feierlichen Eröffnung der Olympischen Spiele nimmt der Fall China mit drei Jahren Verspätung womöglich doch noch einmal Fahrt auf. Die Ermittlungsabteilungen der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) und der Internationalen Test-Agentur (ITA) haben auf Nachfrage ihnen bislang unbekannte Informationen der ARD-Dopingredaktion zum Fall China eingesehen. Die ITA ist für Dopingkontrollen bei Olympia sowie auch im Weltschwimmverband zuständig.
Dokumente aus dem Umfeld der 23 seit Anfang 2021 dopingverdächtigen chinesischen Schwimmer erschüttern die zu ihrer Entlastung vorgelegte Theorie der Chinesischen Anti-Doping-Agentur (CHINADA) erheblich. Sollte sich die Echtheit dieser Dokumente bestätigen, würde der Druck auf die WADA weiter zunehmen, den von ihr schon ad acta gelegten Fall doch noch einer ernsthaften Untersuchung zu unterziehen.
Argument für Freispruch widerlegt?
Die 23 chinesischen Schwimmer, darunter Olympiasieger und Weltmeister, waren im Januar 2021 von der CHINADA positiv auf das im Sport verbotene Herzmittel Trimetazidin getestet worden. Allerdings waren sie nie, nicht einmal vorläufig, gesperrt worden. Stattdessen hatte die CHINADA einen Bericht mit Hilfe einer chinesischen Regierungsbehörde gefertigt, der den Schwimmern bescheinigt, durch das Essen von mit dem Mittel verunreinigten Speisen im gemeinsamen Hotel kontaminiert worden zu sein. Alle Schwimmer wurden klammheimlich freigesprochen. Die WADA segnete den Befund ab. Auch sie hat den Vorgang nie öffentlich gemacht.
In der Doku "Geheimsache Doping: Schmutzige Spiele" hatte die ARD-Dopingredaktion Dokumente präsentiert, die den Erklärungen der chinesischen Verantwortlichen vor allem in einer zentralen Frage widersprechen. Entgegen der offiziellen Darstellung wird beispielsweise in Chat-Nachrichten aus dem Umfeld der chinesischen Athleten behauptet, dass nicht alle 23 Schwimmer im selben Hotel gewohnt hätten. Sollte dies zutreffen, wäre eine Kontamination aller positiv getesteten Schwimmer durch Essen im Restaurant des Hotels praktisch ausgeschlossen und das zentrale Argument für den Freispruch widerlegt.
Drohung von Athleten
Der Vorgang hat den Beginn der Olympischen Spiele erheblich belastet. Unter den Sportlern in Paris ist das Vertrauen in einen zuverlässigen, weltweit einheitlichen Anti-Doping-Kampf im Allgemeinen und in die WADA im Besonderen erheblich beschädigt worden. Auch bei deutschen Schwimmern büßte die WADA massiv an Glaubwürdigkeit ein.
"Es ist halt schade. Ich muss auf das System vertrauen", sagte der deutsche 100-m-Freistil-Rekordhalter Josha Salchow vor seinem Olympia-Debüt: "Das System muss funktionieren, und dafür muss alles getan werden. Und wenn das nicht der Fall ist, dann werden sich auf lange Sicht die Sportler irgendwie auch dagegenstellen müssen."
Das deutsche Team ist insofern sogar direkt betroffen, als 11 der 23 dopingverdächtigen chinesischen Schwimmer auch in Paris gemeldet sind. So musste sich etwa ein deutscher Athlet wie Melvin Imoudu im Vorlauf über 100 Meter Brustschwimmen gleich mit zwei der 2021 betroffenen Chinesen, mit Jiajun Sun und Haiyang Qin, dem aktuellen Weltrekordler auf der 200-Meter-Strecke, messen.
"Risse im Anti-Doping-Kampf"
"Meines Erachtens hat diese nicht korrekte Aufarbeitung zu Rissen im Anti-Doping-Kampf geführt", sagt der Leistungssportdirektor des Deutschen Schwimm-Verbandes, Christian Hansmann. Offensichtlich sei hier "nicht mit gleichen Maßstäben" gemessen worden: "Und einige Athleten werden dadurch benachteiligt, die jetzt möglicherweise Dritter oder Vierter oder Fünfter werden, da immer noch elf chinesische Athleten hier am Start sind.“
Andere Organisationen im Anti-Doping-Kampf bemühen sich weit intensiver als die WADA um Aufklärung, wenn sie mit einem Fall einer positiven Dopingprobe auf Trimetazidin konfrontiert werden, die angeblich auf einer Kontaminierung beruht. So hat die unabhängige Ermittlereinheit Athletics Integrity Unit (AIU) des Leichtathletik-Weltverbandes World Athletics erst vor wenigen Tagen den kenianischen Marathon-Star Lawrence Cherono für sieben Jahre aus dem Verkehr gezogen.
Auch Cherono hatte sich auf eine unabsichtliche Aufnahme des Herzmittels berufen. Die AIU hatte in mühevoller Kleinarbeit schließlich den Beweis erbracht, dass ihr vorgelegte klinische Unterlagen, die eine Kontamination Cheronos belegen sollten, "nicht echt", also gefälscht waren.
Knebelklausel aufgezwungen
Statt lediglich sechs Wochen wie die WADA hatte sich die AIU für die Untersuchung fast zwei Jahre Zeit genommen und Cherono gleich mehrmals befragt, während die WADA auch nach drei Jahren offenbar immer noch nicht mit den betroffenen Schwimmern gesprochen hat. Die Erschütterungen durch das China-Beben haben längst auch den Olymp der Sportwelt erreicht.
Das Internationale Olympische Komitee, heimlicher Machthaber über die WADA als größter einzelner Finanzier, hat bei der Vergabe der Olympischen Spiele 2034 nach Salt Lake City den Amerikanern eine Knebelklausel aufgezwungen. Danach droht ihnen, die Olympischen Spiele zurückgeben zu müssen, sollten sie die Welt-Anti-Doping-Agentur weiterhin attackieren oder ihr Regelwerk untergraben.
Tygart: "Globales Anti-Doping-System bröckelt"
Das gilt als bemerkenswerte, wenn auch leere Drohung: Über ein Drittel der größten 14 IOC-Sponsoren kommt aus den USA. Das Land soll gleich zwei Mal die Spiele im kommenden Jahrzehnt ausrichten (Los Angeles 2028 und Salt Lake City 2034), und sein Fernsehsender NBC sorgt mit sieben Milliarden Euro für die Olympiarechte maßgeblich mit für das Fünf-Sterne-Leben der "Herren der Ringe".
Ohne die regelmäßigen wie üppigen Überweisungen aus den USA müsste die Geldmaschine Olympia ungebremst in den Bettelmodus schalten. So gilt der juristische Schachzug eher als ungelenker Versuch, die nordamerikanische Schar von Chefkritikern insbesondere der WADA zu zähmen. "Das globale Anti-Doping-System unter der Führung der WADA bröckelt", sagt Travis Tygart der ARD-Dopingredaktion.
Der Chef der US-Anti-Doping-Agentur bezeichnet die WADA als "Schoßhündchen des IOC". Tygart mahnt: "Was wir in diesem Moment tun können, ist, für unsere Rechte einzutreten und dafür zu sorgen, dass das System verbessert wird, damit wir auf der Bühne der Welt nicht beraubt werden und für alle Sportler die gleichen Regeln gelten."