Ex-Weltmeister vor letztem Rennen Sebastian Vettel - vom "Bonsai-Schumi" zum "Zwölfzylinder-Grünen"
In Abu Dhabi endet die beeindruckende Karriere von Sebastian Vettel. Der vierfache Weltmeister war nicht einmal 20 Jahre alt, als er in die Formel 1 einstieg, in der er einige Allzeit-Rekorde aufstellte. Nun tritt er als eine Art "schlechtes Gewissen" der Rennserie ab.
"Wenn ich im Auto sitze, muss ich zu einem gewissen Grad ein Drecksack sein" - mit derart lockeren Sprüchen haben die Formel-1-Fans Sebastian Vettel kennengelernt. Jenen Vettel, der mit nicht einmal 20 Jahren Mitte 2007 zum bis dahin jüngsten Piloten in der Motorsport-Königsklasse avancierte, der in die Punkte fuhr. Als "Bonsai-Schumi" wurde der Teenager damals von der Presse belächelt. Es folgte eine einzigartige Karriere mit insgesamt vier Weltmeistertiteln.
"Rennfahrer zu sein war nie meine einzige Identität", sagt der mittlerweile 35-Jährige heute. Vettel wird am Sonntag (20.11.2022, ab 14 Uhr im Live-ticker auf sportschau.de) in Abu Dhabi sein letztes Formel-1-Rennen bestreiten. Von außen betrachtet sieht es so aus, als sei dies eine regelrechte Erlösung für den Heppenheimer, der in den vergangenen beiden Jahren in einem kaum wettbewerbsfähigen Auto von Aston Martin der Konkurrenz weitgehend hinterhergefahren ist. Nach über 300 Grand-Prix-Rennen, von denen er 53 gewinnen konnte, tritt er nun ab. Eine in vielerlei Hinsicht beeindruckende Karriere findet ihr Ende.
Start mit drei - schon im Kindergartenalter im Rennauto
Vettel war 1990 gerade einmal drei Jahre alt, als er erste Fahrversuche am Steuer eines Karts unternahm und im Kindergartenalter im Kerpener Kart-Klub "Graf Berghe von Trips" gegen weitaus ältere Konkurrenten um die Wette sauste. Sein Vater Norbert erkannte das Talent und brachte ihn zum Motorsport, wo er unter anderem von Bauunternehmer und Schumacher-Entdecker Gerhard Noack gefördert wurde.
Ab seinem siebten Lebensjahr startete Vettel aktiv bei Kart-Rennen und heimste im Verlauf der Jahre diverse Juniorentitel ein. Bei den Rennen war der warme Schoß der Familie nie weit: Seine Eltern besuchten gemeinsam mit Bruder Fabian, der später auch im Motorsport unterwegs war, sowie den zwei Schwestern Melanie und Stefanie die Rennwochenenden im Wohnmobil. Im Jahr 2000 machte Vettel als Gesamtsechster der Kart-EM in der Junioren-Kadetten-Klasse erstmals international auf sich aufmerksam. Eine Saison später wurde er 2001 Junioren-Kart-Europameister.
2003 in die Formel 3, 2005 im 900-PS-BMW
Vettel war in der Motorsport-Szene angekommen: Zur Saison 2003 wechselte er in den Formelsport - er sammelte Erfahrungen in der Formel 3. Im Herbst 2005 durfte er erstmals einen Formel-1-Boliden testen und im spanischen Jerez einen 900 PS starken BMW-Williams fahren.
Zwar bestritt Sebastian Vettel 2006 sehr erfolgreich seine Rennen in der Formel-3-Euroserie und beendete diese als Vizemeister, doch viel mehr Aufsehen erregte der Heppenheimer Ende August 2006 beim Training zum Formel-1-Grand-Prix in Istanbul. Erst zwei Tage zuvor hatte der Automobilweltverband FIA dem zum BMW-F1-Testfahrer aufgestiegenen Vettel die nötige Superlizenz erteilt, da legte er beim Freitagstraining die Bestzeit hin.
2007 - jüngster Formel-1-Pilot in den Punkterängen
Sein Formel-1-Debüt gab Vettel im Juni 2007 als Ersatzpilot für den verletzten Sauber-Piloten Robert Kubica beim GP der USA in Indianapolis, wo er als Achter sogleich einen WM-Punkt holte. Dadurch avancierte er im Alter von 19 Jahren und 350 Tagen zum bis dahin jüngsten F1-Piloten der Geschichte, der in die Punkteränge fuhr. Ende Juli wechselte er zum Red-Bull-"Ersatzteam" Toro Rosso.
Seine erste komplette Formel-1-Saison 2008 begann für Vettel mit vier Ausfällen in Serie. Erst im sechsten Saisonrennen gelang ihm mit Rang fünf in Monaco die erste Punkteplatzierung. Das Highlight des Jahres folgte dann im September 2008 beim GP von Italien in Monza. Zunächst sicherte sich Vettel im verregneten Qualifying als jüngster Sieger aller Zeiten die Poleposition, einen Tag später ging er im Alter von 21 Jahren und 74 Tagen als jüngster GP-Sieger in die Geschichte ein. Die Saison beendete er als Gesamtachter.
Getränkekonzern verleiht Vettel Flügel
Zur Saison 2009 wechselte Sebastian Vettel als Nachfolger von David Coulthard zum Red-Bull-Rennstall. Nach einem enttäuschenden Saisonstart mit zwei Ausfällen gelang ihm im dritten Saisonlauf in China ein weiterer Sieg. Fortan zählte der Heppenheimer zu den Mitfavoriten und wurde dieser Rolle mit weiteren Podiumsplätzen und einem Sieg in Großbritannien gerecht. Trotz weiterer Ausfälle blieb er im Titelrennen und wurde nach zwei Siegen in den drei letzten Rennen Vizeweltmeister hinter Jenson Button.
Wie bereits 2009 drohte Vettel auch 2010 den WM-Titel durch unnötige Aussetzer zu verspielen. Doch nach zwei Siegen im viertletzten (Japan) und zweitletzten Rennen (Brasilien) lag er nochmals in Schlagdistanz zu den Gesamtführenden und flog als Gesamtdritter zum Saison-Showdown nach Abu Dhabi. Dort profitierte er von einer falschen Boxenstrategie Ferraris, gewann sein fünftes Saisonrennen, stand erstmals überhaupt an der WM-Spitze und avancierte mit 23 Jahren und 134 Tagen zum jüngsten Weltmeister der Formel-1-Geschichte.
13 Saisonsiege - die Konkurrenz ist abgehängt
Es folgten drei weitere WM-Titel, zeitweise fuhr Vettel die gesamte Konkurrenz in Grund und Boden. 2013 gelangen ihm sagenhafte 13 Saisonsiege, die letzten neun davon in Serie.
2015 dann der Bruch - der Wechsel zu Ferrari. Bereits im zweiten Saisonrennen 2015 feierte Vettel in Sepang/Malaysia zwar seinen ersten Sieg im Ferrari und gewann im weiteren Saisonverlauf auch die Rennen in Ungarn und Singapur. Hinter dem dominierenden Mercedes-Duo Lewis Hamilton und Nico Rosberg wurde er in seiner Ferrari-Debütsaison aber nur Gesamtdritter.
Enttäuschung mit Ferrari
Der Traum vom Titelgewinn mit Ferrari erfüllte sich nicht. Anfangs war das Auto einfach nicht konkurrenzfähig, später verschlechterte sich das Klima im Team. Ende 2020 verließ Vettel Ferrari. Das Comeback im Aston Martin verlief ab 2021 noch enttäuschender. Vettel fuhr der Konkurrenz hinterher - nach zwei Jahren der Schlussstrich: Vettel gab im Sommer 2022 das bevorstehende Ende seiner Rennfahrerkarriere bekannt.
Zu ahnen war dieser Schritt schon seit längerem - Vettel hatte sich innerhalb der Formel-1-Szene als kritischer Geist positioniert. Aktionen für die Umwelt und Hilfsorganisationen bekamen einen hohen Stellenwert. Den Schutzhelm, den Vettel im November 2020 bei seinem letzten Podestplatz für Ferrari in der Türkei getragen hatte, versteigerte er Mitte Dezember für 225.000 Euro auf seiner Homepage. Den Erlös spendete er an Projekte für benachteiligte Kinder in Afrika.
"Grünere Zukunft" der Formel 1 gefordert
Zudem forderte Vettel die Verantwortlichen der Königsklasse auf, Vorreiter bei der Entwicklung von Umwelttechnologie zu sein und eine "grünere" Zukunft der Formel 1 zu fördern. Er setzte sich mit der Zukunft der Erde auseinander, wurde Botschafter für ein österreichisches Bienen-Projekt und gestand ein, auf privaten Spaziergängen Müll aufzusammeln.
Kritiker warfen Vettel angesichts seines umweltpolitischen Engagements Scheinheiligkeit vor. Als "Zwölfzylinder-Grüner" wurde er bezeichnet. Der zuvor in derlei Dingen zurückhaltende Vettel bezog seit 2021 zunehmend Stellung zu politischen Themen, was er unter anderem auf eine Phase der Selbstreflexion während der durch das Coronavirus bedingten Rennpause 2020 zurückführte.
Nachhaltigen Umgang mit Ressourcen gefordert
Im Alltag spiele ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen für ihn seit geraumer Zeit eine zentrale Rolle, ließ er wissen. Dass ein Formel-1-Rennfahrer sein Umweltbewusstsein nach außen trägt, wurde vor allem in den sozialen Medien als unglaubwürdig abgestempelt. Doch Vettel sah darin keineswegs einen Widerspruch. "Das ist etwas, das uns alle angeht. Es gibt keinen Sport, kein Business, keine Aktivität und kein Programm, das um dieses Thema herumkommt", stellte er klar.
Es wurde deutlich: Vettel war augenscheinlich ein nachdenklicher Typ geworden. Und er sagte im Sommer, kurz vor seinem Abschied von der Rennstrecke: "Meine Definition von Identität ist viel mehr, als Rennfahrer zu sein. Es geht darum, wer wir sind und wie wir andere behandeln, als nur was wir tun. Wer bin ich? Ich bin Sebastian, Vater von drei Kindern und Mann einer wundervollen Frau." Ab Sonntagabend wird er kein Formel-1-Fahrer mehr sein.