Rufe nach unabhängiger Sport-Institution werden lauter Olympia verdrängt Problem sexualisierter Gewalt in Frankreich
Die anstehenden Olympischen Spiele bestimmen den französischen Sport. Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt wird von dem Mammut-Projekt an den Rand gedrängt, obwohl sogar eine parlamentarische Untersuchungskommission klare Forderungen ausspricht.
Emmanuel Macron ist im Olympiafieber. Kurz vor Beginn der Spiele in Paris lässt der französische Staatspräsident kaum eine Gelegenheit aus, die Großveranstaltungen zu lobpreisen - trotz oder gerade wegen Regierungskrise und politischen Spannungen.
"Ich möchte, dass sich unsere Landsleute vergegenwärtigen, dass es ein Moment der Einheit wird, auf den wir stolz sein können", sagte Macron: "Die Olympischen Spiele werden unseren Alltag noch lange bestimmen. Es lebe Olympia!"
Neue Dynamik durch Untersuchungskommission
Doch ob das Erbe der Spiele wirklich alle im französischen Sport zufriedenstellen wird, ist fraglich. Denn derzeit mehren sich die Stimmen, die die Einrichtung einer unabhängigen Institution fordern, die von Gewalt betroffenen Sportlern helfen und einen gewaltfreien Sport ermöglichen soll - ähnlich dem geplanten Zentrum für Safe Sport in Deutschland, das nach jetzigem Stand 2026 in den Regelbetrieb gehen soll.
Zum Jahreswechsel lag der Fokus des französischen Sports nicht nur auf den Olympischen Spielen - und nicht überall war die Vorfreude so groß wie bei Macron. Denn analog zur Situation in Deutschland nehmen auch die Schwierigkeiten, die Sport und Politik seit Jahren in Sachen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt begleiten, immer mehr Raum in der öffentlichen Debatte in Frankreich ein.
Maßgeblich befeuert hatte diese Diskussion der Abschlussbericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission, die sich im vergangenen Jahr sechs Monate lang mit Versäumnissen der französischen Sportverbände auseinandergesetzt hatte.
"Ausgangspunkt für die Kommission war, dass sich immer mehr Eltern an mich gewandt und von schlechten Erfahrungen mit Trainern im Sport berichtet hatten", sagt die Abgeordnete Sabrina Sebaihi im Gespräch mit der ARD: "Uns ist klar geworden, dass Gewalt im Sport ein extrem wichtiges Thema im französischen Sport ist."
Nach Abitbols Buch im Fokus
Durch das Buch "Un si long silence" ("Ein solch langes Schweigen") der ehemaligen Eiskunstläuferin Sarah Abitbol ist sexualisierte Gewalt im Sport bereits 2020 verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt. Abitbol berichtet in ihrem Buch, im Alter von 15 Jahren von ihrem Trainer missbraucht worden zu sein.
Kurz zuvor hatte eine Dokumentation der Online-Plattform "Disclose" erschütternde Fälle sexualisierter Gewalt mit 276 Betroffenen im Land des Olympia-Gastgebers öffentlich gemacht. 2023 gab das Sportministerium bekannt, dass eines von sieben Kindern von Gewalt im Sport betroffen sei und der Großteil der Fälle auf sexualisierte Gewalt zurückgehe.
"Von einigen Anhörungen schockiert"
Sebaihis Kommission führte im vergangenen Jahr 92 Anhörungen mit fast 200 Personen durch - neben betroffenen Sportlern auch mit Journalisten, die über das Thema berichtet hatten, sowie mit Führungspersonal aus Sportverbänden. "Viele Funktionäre wirken auf uns unfähig, überhaupt zu verstehen, dass sie eine Verantwortung für die Minderjährigen hatten, die unter sexualisierter Gewalt gelitten haben. Deswegen waren wir von einigen Anhörungen schockiert", sagt die Abgeordnete: "Dass die Verbände sich nicht selbst reformieren können, ist ganz deutlich."
Sport und Politik hätten auf die Arbeit der Untersuchungskommission negativ reagiert, erinnert sie sich: "Wir haben einen Brief des Nationalen Olympischen Komitees erhalten, in dem uns der Präsident schrieb, die Kommission sei lächerlich und habe zum Ziel, vor Olympia ein schlechtes Bild des französischen Sports zu zeichnen." Die französische Sportministerin habe laut Sebaihi nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts im Januar bis heute keinen Kontakt gesucht.
"Von Erlebnisberichten überschwemmt"
Vonseiten betroffener Sportlerinnen und Sportler sei die Reaktion jedoch anders gewesen. "Wir wurden von Erlebnisberichten überschwemmt", sagt Sebaihi. In Anhörungen hätten Sportler gesagt: "Wenn wir an den Sport und unseren Verein denken, denken wir an die Mafia, an eine Sekte." Am häufigsten, so hätten es die Betroffenen geschildert, sei ihnen von Funktionären im Verein gesagt worden, sie sollen über die Gewaltvorfälle lieber schweigen.
Eine der wesentlichen Forderungen aus dem Abschlussbericht der Untersuchungskommission: Die Gründung einer unabhängigen Institution, an die sich Sportler wenden können. Diese solle ein einheitliches Regelwerk liefern, das vom französischen Sport respektiert werden soll. Die Institution soll auch Sanktionen aussprechen können.
Diese Forderung der Kommission fand auch deswegen großen Widerhall, weil eine andere Stelle sie ebenfalls vorbrachte. Das "Nationale Komitee zur Stärkung von Ethik und Demokratie im Sport" unter der Leitung der ehemaligen französischen Sportministerin Marie-George Buffet sprach eine fast identische Empfehlung aus. Buffet war zuvor vom Sportministerium zur Erstellung eines solchen Berichts beauftragt worden.
Was folgt nach Olympia?
"Die Anlaufstelle muss unabhängig vom Sport sein und Betroffenen die Möglichkeit bieten, sich vertraulich und anonym äußern zu können", sagte Buffet im ARD-Interview. Zwischen 1997 und 2002 habe sie als Sportministerin die Erfahrung gemacht, dass der Sport nur durch externe Behörden Fortschritte machen könne. In ihre Amtszeit fiel damals der Festina-Skandal bei der Tour de France, Auslöser für die Gründung der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA).
Doch ob eine unabhängige Stelle auch im Sportministerium gewollt wird, bezweifelt Buffet: "Mein Eindruck ist, dass man sich hauptsächlich mit Olympia beschäftigt und der Rest keine Rolle spielt." Und auch Sabrina Sebaihi betont den Handlungsbedarf: "Es braucht klare Maßnahmen und mehr finanzielle und personelle Ressourcen."
Daher spreche sich Sebaihi dafür aus, die Gründung der unabhängigen Institution einen Teil des Erbes der Olympischen Spiele werden zu lassen. Sie glaubt: "Niemand kann heute mehr behaupten, dass man nicht wisse, was im französischen Sport passiert." Doch ob es gelingen wird, nach den von Staatspräsident Macron angesetzten Neuwahlen und dem Großereignis Olympia die Empfehlungen in ein Gesetz zu überführen, bleibt offen. Ähnlich wie bei sexualisierter Gewalt im deutschen Sport scheint es, dass Sachlage und Handlungsbedarf umfassend bekannt sind, Betroffene aber auf konkrete Hilfe warten müssen.