Missbrauch im Sport "Eklatant schlecht" - wie Deutschland beim Schutz junger Sportler versagt
Während Sport und Politik hinter den Kulissen beim Aufbau des "Zentrums für Safe Sport" streiten, werden regelmäßig neue Missbrauchsfälle öffentlich. Sie zeigen, wie dringend Deutschland eine zentrale Anlaufstelle für Gewaltdelikte im Sport braucht.
Robert Wittkuhn kämpft immer wieder mit den Tränen. Die Ereignisse, die mehr als 25 Jahre zurückliegen und über die er erstmals öffentlich spricht, belasten ihn bis heute. Wenn der ehemalige Radsportler erzählt, wie ein Verantwortlicher eines sächsischen Vereins ihn unter dem Vorwand einer notwendigen Massagebehandlung sexuell missbraucht habe, zittert seine Stimme. Wittkuhn war damals 17 Jahre alt - und der Vorfall der Anfang vom Ende seiner noch jungen Karriere.
Unter der Last der schockierenden Erfahrung verließ Wittkuhn den Verein. "Ich wollte da einfach so schnell wie möglich weg", sagt er der ARD-Sportschau. Selbst Konsequenzen für den Beschuldigten waren ihm zunächst egal. Erst mehr als zehn Jahre später brachte er die Kraft auf, den Verein über seinen Fall zu informieren. Und er stellte viele unbequeme Fragen: Gab es noch mehr Opfer, und wenn ja, wie viele? Was ist aus dem betreffenden Funktionär geworden? Wie geht der Verein grundsätzlich mit solchen Fällen um?
"Der Tonfall in den Antworten war: Das sind jetzt alles alte Leute, die haben ihr Leben für den Verein gegeben. Die haben auch versucht, damit abzuschließen", sagte Wittkuhn mit Blick auf seine Kommunikation mit Vereinsverantwortlichen. E-Mails, die das belegen, liegen der ARD vor. Wittkuhn fragt sich heute: "Mit was haben die eigentlich abgeschlossen? Mit ihrer eigenen Verantwortung?"
Jan Hempel als Vorbild
Wittkuhn hatte sich Jan Hempel als Beispiel genommen und den Entschluss gefasst, öffentlich über seine Erlebnisse zu sprechen, weil er wie so viele Betroffene in der Aufarbeitungsphase auf Ablehnung und Gleichgültigkeit stieß. "Wenn er die Kraft aufbringt, muss ich sie erst recht aufbringen können", sagte er mit Blick auf Hempels schockierende Berichte.
Der ehemalige Wasserspringer Hempel erzählte vor knapp zwei Jahren in der ARD-Doku "Missbraucht: Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport" erstmals über den jahrelangen Missbrauch durch seinen Trainer. Heute sagt Hempel über den Prozess der Aufarbeitung: "Es ist ein ganz, ganz schwerer Weg. Ich komme damit relativ gut klar, aber es gibt viele, die ich in den letzten zwei Jahren kennengelernt habe, die völlig allein gelassen werden. Ich weiß, dass ich nur die Spitze des Eisberges bin."
Safe-Sport-Projekt gerät ins Stocken
Alle wichtigen Gremien in Sport und Politik haben längst realisiert, dass eine Neuordnung im Umgang mit Missbrauchsfällen jeglicher Art im Sport notwendig ist. Der Fall Hempel hatte den Diskussionen darüber vor knapp zwei Jahren Schwung verliehen. Dutzende neue Fälle begleiten den Prozess seitdem, alle Beteiligten bekommen regelmäßig vor Augen geführt, dass die Strukturen im Sport Missbrauch begünstigen.
Erst am vergangenen Mittwoch verurteilte das Landgericht Dessau-Roßlau einen Kampfsporttrainer zu neun Jahren und sechs Monaten Haft - wegen schweren sexuellen Missbrauchs an einer minderjährigen Athletin in mehr als 200 Fällen. Nach einem Urteil des Münchner Landgerichts im März muss ein ehemaliger Fußball-Trainer siebeneinhalb Jahre in Haft, wegen Hunderter sexueller Übergriffe und 153 Vergewaltigungen.
Angesichts solcher und zahlreicher weiterer Fälle in den vergangenen Monaten mutet der Weg umso problematischer an, den die beteiligten Institutionen bei der Reform der Strukturen im Umgang mit sexualisierter und anderen Formen von Gewalt im Sport derzeit beschreiten. Nach Bekanntwerden des Falles Hempel wurde die Einrichtung einer übergeordneten Anlaufstelle mit weitreichenden Befugnissen beschlossen, die bis hin zur sportrechtlichen Sanktionierung von Tätern reichen sollen. Der Name: Zentrum für Safe Sport. Als rechtliche Grundlage der Einrichtung soll ein sogenannter Safe Sport Code dienen.
Zuletzt wurden von verschiedenen Stellen gleich zwei Safe Sport Codes entwickelt: einerseits vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und der Interessenvertretung Athleten Deutschland, andererseits vom Deutschen Turner-Bund (DTB), der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) und der Deutschen Sporthochschule in Köln, unterstützt vom Bundesinstitut für Sportwissenschaften. Die beiden Gruppen agierten nach ARD-Informationen unabhängig voneinander und praktisch ohne gegenseitige Abstimmung. Was von welcher Fassung künftig gültig sein soll, ist unklar. Diese Frage werde derzeit erörtert, teilte das für den Sport zuständige Bundesinnenministerium auf ARD-Anfrage mit.
"Es kann nicht sein, dass ein Flickenteppich entsteht"
Bei Athleten Deutschland, dem maßgeblichen Ideengeber für das Zentrum für Safe Sport, schrillen längst die Alarmglocken. "Wir merken in unserer alltäglichen Fallbetreuung immer wieder, wo die Grenzen des Systems sind, dass Betroffene in Sackgassen laufen, dass Hinweise versanden", sagt Maximilian Klein, bei Athleten Deutschland für das Projekt zuständig: "Dementsprechend sind wir natürlich auch durchaus unruhig."
Es sei extrem wichtig, sagt Klein, dass "Prozesse innerhalb des Sports" zusammengeführt würden mit dem Prozess zum Aufbau des Zentrums für Safe Sport: "Es kann nicht sein, dass ein Flickenteppich entsteht." Das Bundesinnenministerium erklärt, das Zentrum für Safe Sport solle wie geplant 2026 in den Regelbetrieb gehen. Ob diese Zusage auch nach der Bundestagswahl 2025 noch Bestand haben wird, erscheint momentan fraglich.
Irrwege der Aufarbeitung
Wie bedeutsam eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene sein könnte und was für alarmierende Irrwege selbst Fälle jenseits von sexualisierter Gewalt und wohl unterhalb der Strafbarkeitsschwelle in der Aufarbeitung nehmen können, zeigen Vorfälle in einem Schwimmverein in Nordrhein-Westfalen. Drei Athleten, in der betreffenden Zeit noch minderjährig, werfen dort einem Vereinsverantwortlichen zahlreiche Fälle psychischer Gewalt vor. Es geht um Mobbing, Bodyshaming, Bedrohungen, Beschimpfungen. Die Sportler, darunter ein mit Steuergeldern gefördertes Toptalent, beschreiben in der Sportschau ein Klima der Angst.
Dass sie dies nun öffentlich tun, liegt auch daran, dass bislang alle Versuche der Aufarbeitung nicht mal ansatzweise im Sinne der Betroffenen verliefen. Mit der Thematik befasst waren oder sind neben dem Vereinsvorstand: die Leitung eines Sportinternats, die Schule, der Landesschwimmverband, der Stadtsportbund, das Jugendamt, mehrere Kinderschutzorganisationen, die Sportstiftung NRW als Förderer und seit Dezember vergangenen Jahres die "Anlaufstelle gegen Gewalt" von Athleten Deutschland. Der Vereinsvorstand hat nach Aussage der Betroffenen noch immer nicht auf die Vorwürfe reagiert.
"Eklatant schlecht gelaufen"
Eine Fördermaßnahme des Schwimmverbandes NRW wurde dem Verein aufgrund der Vorkommnisse gestrichen. Hauptgrund dafür sei gewesen, teilte der Verband auf ARD-Anfrage mit, dass sich der Vereinsvorstand "nicht mit der gebotenen Sorgfalt und Umsicht der Aufklärung der Thematik" angenommen habe. Der Vorstand habe zudem keine Bereitschaft gezeigt, "überhaupt anzuerkennen, dass es eine Problemsituation gab".
Auch die Leiterin des Sportinternats, Ruth Funk, hatte vergeblich versucht, im Sinne der Jugendlichen zu intervenieren. Sie sagte der Sportschau, die Umsetzung des durchaus vorhandenen Schutzkonzeptes durch Vereinsseite sei "so eklatant schlecht gelaufen, dass sich mir das überhaupt nicht mehr erklärt hat". Der Verein teilte dagegen mit, der Vorgang sei "vollumfänglich gemäß unseres Präventionskonzepts nachverfolgt worden".
Auch Jan Hempel weiß seit seinen Enthüllungen, wie es sich anfühlt, wenn Aufarbeitung ins Stocken gerät. Die extra einberufene Kommission, die seinen und weitere in der ARD-Doku "Missbraucht" beschriebene Fälle bearbeitet, hat die Veröffentlichung ihres Abschlussberichts mehrfach verschoben. Viele Betroffene warten gespannt darauf, der Bericht soll nun im September erscheinen.
Hempel fordert mittlerweile vehement, dass sich grundsätzlich eine zentralisierte Stelle um Gewaltdelikte im Sport kümmert. Sie sollte, das betont er ausdrücklich, vor allem unabhängig von sämtlichen Sportorganisationen agieren. "Ansonsten passiert da nie etwas", sagt der 52-Jährige: "Eine Krähe wird der anderen kein Auge auskratzen".