WM 2022 | Exklusiv Katar – Wollte der WM-Chef Berichte über Arbeitsbedingungen auf WM-Baustellen verhindern?
Ein WhatsApp-Chat aus den Reihen des katarischen WM-Organisationskomitees aus dem Jahr 2019, der der Sportschau und dem norwegischen Fußballmagazin "Josimar" exklusiv vorliegt, legt die Vermutung nahe, dass der WM-Organisationschef Hassan Al-Thawadi Berichterstattung über ausbeuterische Arbeitsbedingungen auf WM-Baustellen verhindern wollte. Ein Mitarbeiter, der nach eigener Aussage daran Kritik übte, wurde im April zu fünf Jahren Haft verurteilt. Menschenrechtsorganisationen protestieren nun gegen das Urteil und fordern einen neuen Prozess.
Abdullah Ibhais wurde im April zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der 35-jährige Jordanier war Kommunikationsdirektor für das Organisationskomitee der FIFA WM 2022 in Katar. Laut Anklage wurden ihm im Rahmen eines Marketingauftrages unter anderem Missbrauch von Geldern und Bestechung vorgeworfen. Am Dienstag (26.10.2021) entscheidet ein Berufungsgericht in Katar, ob das Urteil vollstreckt wird.
Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch (HRW) und Fairsquare hatten Anfang Oktober gegen das Urteil protestiert. Nach Sichtung der Gerichtsunterlagen und weiterer Dokumente kommen die Organisationen zu dem Schluss, dass Abdullah Ibhais kein faires Verfahren erhalten habe.
"Die Behörden sollten sofort den Vorwürfen nachgehen, dass sein Geständnis erzwungen wurde, und fragen, ob das WM-Organisationskomitee das Justizsystem genutzt hat, um sich an einen Mitarbeiter wegen interner Kritik zu rächen", fordert Michael Page, HRW-Direktor der Abteilung Naher Osten.
"Ich bin unschuldig"
Im Sportschau-Interview erhebt Abdullah Ibhais schwere Vorwürfe gegen das WM-Organisationskomitee. "Das komplette Verfahren ist Vergeltung für meine kritische Haltung gegenüber dem WM-Organisationskomitee und ihrem Umgang mit Gastarbeitern", sagt Ibhais.
Abdullah Ibhais
Als Beleg dafür übermittelte er der Sportschau einen internen WhatsApp-Chatverlauf aus dem Jahr 2019. Teilnehmer an diesem Chat waren unter anderem WM-Chef Hassan Al-Thawadi, Mahmoud Qutub, der Exekutivdirektor Workers' Welfare und somit zuständig für Gastarbeiter auf WM-Baustellen, mehrerer Mediendirektor:innen sowie Ibhais.
Um die Echtheit der Chats zu überprüfen, übersandte die Redaktion einen Fragenkatalog, Namen der Teilnehmer, Chatauszüge und Zeitpunkt des Chatverlaufs an das WM-Organisationskomitee. Das Komitee dementiert nicht die Echtheit der Chatprotokolle, nennt die Vorwürfe von Abdullah Ibhais allerdings absurd, ohne jede Grundlage und vollkommen falsch. Man habe 2019 bei Abdullah Ibhais Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Dienstleistungsaufträgen festgestellt und dies den Behörden pflichtgemäß gemeldet.
Aufregung wegen massiver Proteste
Der Name der WhatsApp-Gruppe "Crisis Comms", zu Deutsch Krisenkommunikation, signalisiert nach Aussage von Abdullah Ibhais, dass es sich hierbei um einen Austausch von höchster Wichtigkeit innerhalb des katarischen WM-Organisationskomitees handele.
Am 4. August 2019 und den folgenden Tagen herrschte - so legt der Chatverlauf nahe - große Aufregung unter den hochrangigen Funktionär:innen, ausgelöst durch massive Proteste und Demonstrationen von Gastarbeitern des Unternehmens ISKAN wegen ausgebliebener Löhne, eingezogener Ausweispapiere und schlechter Unterbringungen. Nach Angaben von Human Rights Watch und Amnesty International handelte es sich um eine Protestwelle, die es in dieser Form noch nie in Katar gegeben hatte.
Brisante Sprachnachricht von WM-Chef Hassan Al-Thawadi
In der "Crisis Comms"-WhatsApp-Gruppe habe nun WM-Chef Al-Thawadi - so berichtet Abdullah Ibhais - darauf gedrängt zu verbreiten, dass die Demonstrationen und Streiks nichts mit der WM 2022 zu tun hätten. Aus dem von ihm übermittelten Chatverlauf erscheint schlüssig, dass WM-Organisationschef Thawadi entgegen objektiver eigener Erkenntnisse einen entsprechenden "Spin" erzeugen wollte.
Eine Mitarbeiterin hatte ihn laut Chat darauf hingewiesen, dass auch mindestens 203 Bauarbeiter, die auf WM-Baustellen tätig seien, über Monate kein Gehalt bekommen hätten. Tatsächlich wurde dem WDR damals auf Nachfrage dieser Sachverhalt verschwiegen. Das WM-Organisationskomitee schreibt heute, dass die Frustration im Chat vom Wunsch herrührte, die ausstehenden Gehälter schnellstmöglich zu bezahlen. Dies sei schließlich für die WM-Bauarbeiter bis zum 9. August 2019 erreicht worden.
Abdullah Ibhais widerspricht Hassan Al-Thawadi
Ibhais hatte laut Chatverlauf im Laufe des 4. August 2019 persönlichen Kontakt zu streikenden WM-Bauarbeitern. Zum Beweis hatte er Fotos und ein Interview mit einem protestierenden Arbeiter in den Chat hochgeladen. Außerdem schreibt er von weiteren WM-Arbeitern, die laut ihren Aussagen vier Monate lang kein Gehalt bekommen hätten.
Im Chat widerspricht er direkt seinem vorgesetzten WM-Chef Al-Thawadi. Das WM-Organisationskomitee dürfe seiner Meinung nach nicht in der von Al-Thawadi geforderten Form öffentlich reagieren. Das WM-Organisationskomitee schließt nachdrücklich aus, dass es Vergeltung an Ibhais nehmen wolle.
Ibhais kündigt Hungerstreik an
Im Oktober 2019 hatte es eine interne Untersuchung gegen ihn gegeben, und im November wurde er festgenommen. Um sein Geständnis zu erhalten, sei er bedroht worden, sagte Ibhais. Für den Fall, dass das Urteil am Dienstag nicht zurückgenommen wird und er seine Haftstrafe antreten müsse, kündigte er einen Hungerstreik an.