Ins EM-Halbfinale gemauert? Frankreich zelebriert die Kunst des Verteidigens
Gerade mal 37 Prozent Ballbesitz hatten die Franzosen im EM-Viertelfinale gegen Portugal (5:3 im Elfmeterschießen). Auf Kritik am eigenen Spiel reagieren Trainer Didier Deschamps und sein Team mit Trotz - es zähle nur der Erfolg.
Mit seinem unvergleichlichen Antritt zieht Rafael Leão über links auf und davon - aus spitzem Winkel läuft der portugiesische Linksaußen aufs französische Tor zu. Der 1,88 Meter große Modellathlet hat nur noch Keeper Mike Maignan vor sich. Schuss oder Querpass? Eduardo Camavinga nimmt ihm die Entscheidung ab. Mit einer an einen chirurgischen Eingriff erinnernden Präzision setzt der französische Mittelfeldspieler von schräg hinten die Grätsche und klärt.
Die feine französische Klinge - nur eben ganz anders als man es von Frankreich erwartet. Die Mannschaft von Trainer Deschamps seziert in Deutschland nicht die gegnerischen Defensivreihen, sondern operiert aus einer konzentrierten Defensive heraus - ganz so, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Es bleibt bei einem Gegentor in nunmehr fünf EM-Spielen.
Frankreich - Kritik aus der Heimat reißt nicht ab
120 Minuten gegen Portugal, in denen die "Grande Nation" laut offizieller UEFA-Statistik gerade einmal 37 Prozent Ballbesitz hatte. Warum? Weil die "Equipe Tricolore" es kann! Der Erfolg gibt Deschamps eigentlich Recht. Oder? "Sie sagen mir nicht, dass wir unseren Platz im Halbfinale nicht verdient haben", feuerte der Coach, der sich in den EM-Wochen viel Kritik aus der Heimat gefallen lassen muss, einem kritischen Journalisten eine Gegenfrage entgegen.
Wir haben nur diese drei Tore erzielt. Aber wir haben das Halbfinale erreicht und das zeigt, wie stabil die Mannschaft und wie stark unser Charakter ist.
Es bleibt allerdings der Eindruck, dass sich Frankreich irgendwie durch die EM mauschelt. Noch immer ist kein Tor aus dem Spiel heraus gelungen. Den einzigen eigenen Treffer hat Kapitän Kylian Mbappé gegen Polen (1:1) per Strafstoß erzielt. Der Weltmeister von 1998 und 2018 als Minimalist. Zu den 1:0-Erfolgen zum Auftakt gegen Österreich und im Achtelfinale gegen Belgien verhalf der "Équipe tricolore" jeweils ein Eigentor des Gegners.
"Wir haben nur diese drei Tore erzielt. Aber wir haben das Halbfinale erreicht und das zeigt, wie stabil die Mannschaft und wie stark unser Charakter ist", gab sich Ousmane Dembélé trotzig - und erklärte mit Blick auf das Spiel gegen Portugal: "Unsere Taktik ist die richtige."
Spieler voll auf Deschamps' defensiver Linie
Die Spieler gehen den Weg von Deschamps, der als Aktiver und Trainer an beiden Weltmeister-Titeln beteiligt war, voll mit. "Wir wussten, dass es ein schwieriges Spiel werden würde. Aber wir hatten eine solide Defensive und die nötige mentale Stärke", lobte Torhüter Maignan, der im Elfmeterschießen nicht mal einen Ball halten musste, weil João Félix am Pfosten scheiterte. Dembélé fügte hinzu: "Wir haben eine großartige Defensivarbeit geleistet - die ganze Mannschaft. So haben wir das Spiel gewonnen."
Deschamps erklärte, er sei stolz auf seine Spieler. Er lobte die Ruhe und Gelassenheit seines Teams.
Mbappé und Griezmann suchen weiter ihre Form
Doch genau die fehlte über die 120 Minuten vor dem Tor. Auch wenn Deschamps' taktische Ausrichtung mit Viererkette und drei eher defensiven Mittelfeldspielern davor den Fokus klar auf die konzentrierte Abwehrarbeit legte, hatten Mbappé und Co. durchaus Chancen. Der Kapitän wirkte nach seinem Nasenbeinbruch aus dem Österreich-Spiel mit der schwarzen Schutzmaske allerdings gehemmt. Und Routinier Antoine Griezmann war auch gegen Portugal immer noch auf Formsuche.
Aus unterschiedlichen Gründen spielen Kylian and Antoine nicht ihren besten Fußball. Aber trotzdem sind wir hier.
"Sie fragen sich, was passiert wäre, wenn wir Tore geschossen hätten", witzelte Deschamps nach dem Halbfinaleinzug, bei dem Dembélé, der in der 67. Minute für Griezmann aufs Feld gekommen war, noch am auffälligsten war. Aber auch der Ex-Dortmunder traf einige falsche Entscheidungen. Schoss, statt zu passen und legte ab, statt selbst den Abschluss zu suchen.
"Es ist gut, dass wir die Chancen hatten. Wir sind nur nicht effizient genug gewesen. Aber das ist unser Spiel. Und wenn das jemandem nicht passt, dann ist es sein Problem", erklärte Dembélé, der sicher auch wegen seiner Nervenstärke als erster Schütze beim Elfmeterschießen zum Spieler des Spiels gewählt worden ist.
Verteidiger Saliba: "Ronaldo keinen Krümel lassen"
Auf der anderen Seite ließ Cristiano Ronaldo in seinem letzten EM-Spiel die portugiesischen Fans genau einmal jubeln - Hamburg hat die größte portugiesische Gemeinde in ganz Deutschland: Die große Freude über die "gewonnene" Seitenwahl vor dem Elfmeterschießen war aber nur von kurzer Dauer.
Fünf Franzosen trafen, João Félix' Fehlschuss war am Ende entscheidend - und die "Équipe tricolore" lief auf die andere Seite des Stadions, um vor der Nordkurve mit den eigenen Fans zu feiern.
"Wir wussten, dass wir Ronaldo keinen Krümel lassen durften", sagte Verteidiger William Saliba: "Seit Turnierbeginn sind wir sehr solide, weil alle gemeinsam verteidigen. Wir wissen, dass wir zu 90 Prozent weiter sind, wenn wir ohne Gegentor bleiben." Und da sind Grätschen wie die von Camavinga gegen Leão fast so schön wie ein eigener Treffer.