Elfmeter-Trauma beendet England und die neue Perfektion vom Punkt
Das Trauma ist Geschichte, jetzt könnte das Elfmeterschießen zur neuen Heldensaga werden: Englands neue Qualität im "Shootout" ist das Ergebnis akribischer Arbeit.
Bukayo Saka war die Erleichterung ganz besonders anzumerken. Als der englische Außenstürmer seinen Versuch im Elfmeterschießen des Viertelfinales gegen die Schweiz versenkte, verhinderte er auch die Fortsetzung eines Films, der in den Momenten, als er zum Punkt gegangen war, in vielen Köpfen wieder hervorgerufen worden war. Denn Saka gehörte zu den tragischen Helden, die drei Jahre zuvor im verlorenen EM-Finale gegen Italien ihren Elfmeter verschossen hatten - und dann allesamt rassistischen Anfeindungen in den sozialen Medien ausgesetzt waren.
Diesmal hat Saka die Nerven behalten. Trippelschritte auf der Stelle, drei Schritte Anlauf, Schuss mit dem linken Fuß - und das so genau neben den Pfosten, dass Yann Sommer auch dann keine Chance gehabt hätte, wenn ihn sein Gegner nicht in die falsche Ecke geschickt hätte. Ohnehin war der Schweizer Keeper die "ärmste Sau" in diesem Elfmeterschießen, bei keinem der fünf englischen Schüsse hatte er auch nur den Hauch einer Chance.
Toney schaute nicht mal auf den Ball
Selten waren die Ausführungen derart überzeugend wie in diesem Fall - es war eine Mischung aus Überzeugung, Selbstvertrauen, Leichtigkeit, Präzision, Übersicht und Variantenreichtum. Spiele Englands machen bei dieser EM keinen Spaß, diese neun Minuten im Viertelfinale waren allerdings ein Genuss. Ein Elfmeterschießen wurde plötzlich zu der Demonstration von Stärke, die die "Three Lions" sonst so sehr während der 90 (oder im Falle der bisherigen K.o.-Runde 120) Minuten im Turnier vermissen ließen.
Cole Palmer legte los, sprintete beim Anlauf Richtung Ball und schob ihn locker halbhoch ins linke Eck, weil er sah, dass Sommer sich für das andere entschieden hatte. Es folgte Jude Bellingham, der seinen Schuss in Ronaldo-Manier vorbereitete, dann den Anlauf verzögerte, einen ganz großen Schritt machte und mit Niedriggeschwindigkeit eine Art Kurzpass ins rechte Eck spielte - Sommer war nämlich wieder anderweitig unterwegs.
Saka war der nächste Schütze, der vierte Engländer war Ivan Toney mit einer besonderen Ausführung. Er ging nur einen Schritt, ehe er abschloss, und verschwendete nicht einen Moment damit, den Blick auf den Ball zu richten. Sommer wartete diesmal lange und schaffte es, sich nicht verladen zu lassen, aber der "blinde" Flachschuss von Toney war derart platziert, dass er keine Chance hatte. Der finale Treffer kam dann von Trent Alexander-Arnold, der den Ball wie einen seiner tollen Freistöße mit viel Effet ins linke Eck wuchtete.
Kane schaute völlig gelassen zu
Harry Kane, der vermutlich sogar Schütze Nummer eins gewesen wäre, war kurz vor dem "Shootout" ausgewechselt worden - aber geriet beileibe nicht in Panik. "Ich war sehr ruhig auf der Bank. Ich sehe ja immer, wie sich die Jungs auf diese Situation vorbereiten und wie sie schießen. Wir haben auch viele Spieler, die die Elfmeter in ihren Klubs schießen", sagte der Torjäger des FC Bayern München.
Und Bellingham betonte, es sei "ein massiver Mannschaftserfolg". Er lobte die Ersatztorhüter Dean Henderson und Aaron Ramsdale, "die uns sehr dabei helfen, die Elfmeter zu üben. Sie werden nie den Kredit bekommen, den sie verdienen, aber wenn sie sich nicht so sehr einsetzten, würden wir das nicht so gut trainieren können."
Ein Niederländer macht den Niederländern Probleme
Doch Bellingham bekommt nicht nur Hilfe von den Torhütern, sondern auch von einem der Co-Trainer. Jimmy Floyd Hasselbaink ist sowas wie der "Penalty-Coach" der Engländer. "Ich war zuversichtlich wegen meiner Vorbereitung, und wegen der Dinge, die ich mit ihm besprochen hatte", sagte der Champions-League-Sieger von Real Madrid. "Es ist die Arbeit, die er hinter verschlossenen Türen mit den Jungs macht, die uns dahin gebracht hat, dass wir diese Situation gewinnen können."
Ein Niederländer trägt also eine große Mitschuld daran, dass die Niederlande ein Elfmeterschießen am Mittwoch (10.07.2024) im Halbfinale unbedingt umgehen sollten. Zumal dies nicht gerade die Paradedisziplin von "Oranje" ist, von 1992 bis 2000 gab es dreimal in Folge das EM-Aus nach Elfmeterschießen, erst einmal gewannen die Niederlande das Ausschießen aus elf Metern.
England ist bei Welt- und Europameisterschaften siebenmal auf diese Weise rausgeflogen, doch jetzt offenbar weit entfernt von diesen traumatischen Erfahrungen. Denn nicht nur die englischen Schützen sind vorbereitet, sondern auch Torhüter Jordan Pickford. Das Bild seiner Trinkflasche, auf der Anweisungen zu allen Spielern der Schweiz standen, ging in den sozialen Medien viral. Der Tipp "dive left" ("sping' nach links") bei Manuel Akanji war Gold wert.
Pickfords Trinkflasche mit Informationen zu den Elfmeterschützen
England-Faktor Pickford
"Ich glaube an meine mentale Stärke und dass ich immer mindestens einen Elfmeter halten werde", sagte Pickford nach dem Triumph über die Schweiz. Der Torhüter parierte bereits seinen vierten von 14 Versuchen bei Elfmeterschießen bei Europa- und Weltmeisterschaften, mit ihm hat England drei- von viermal diese Situation als Sieger überstanden. Wobei es die bitterste Niederlage - wir erinnern uns an Saka - im ungünstigsten Moment im Finale der vergangenen EM gab.
Die Spieler treffen, der Torhüter hält - und auch der Trainer hat einen Anteil an der neuen "Feel-Good-Story" der Engländer. Vor drei Jahren dachte Gareth Southgate, mit Jadon Sancho und Marcus Rashford zwei frische Spieler extra für das Elfmeterschießen einzuwechseln, sei eine gute Entscheidung - sie verschossen. Nun kam Alexander-Arnold nur für diesen Anlass - und er verwandelte für jeden Torhüter unhaltbar. Bei aller Kritik an Southgate: Das Elfmeterschießen war auch sein Meisterstück.
Southgate schenkt Elfmeterschießen besondere Beachtung
Und beim Blick auf seine generell sehr passive Spielweise und der Akribie, die er in die tägliche Arbeit rund ums Elfmeterschießen legt, könnte man fast meinen, dass er es genau auf diese Situationen anlege. Chris Markham war vier Jahre lang beim englischen Fußballverband FA tätig und arbeitete in der Zeit eng mit den Nationaltrainern zusammen, um sich bestmöglich auf Elfmeter vorzubereiten. Er hat eine klare Erklärung für den enormen Fortschritt der Engländer bei Elfmetern.
"Ich habe von jedem der vergangenen fünf englischen Trainer vor Gareth Southgate - Sam Allardyce ausgenommen - Zitate gefunden, in denen es hieß, Elfmeterschießen seien eine Lotterie, reine Glückssache oder man könne diese Art von Druck nicht trainieren", sagte Markham dem "Daily Mirror". "Zum Glück waren Gareth und sein Team sehr aufgeschlossen und hatten Respekt vor guter Arbeit. Wenn wir über Anlaufschritte, Winkel und Tempo sprechen, wissen sie alles. Und auch über Atemtechniken, optimalen Zielbereichen und Torhütern." England lebt die Perfektion vom Punkt.