Ein Jahr Bundestrainer Nagelsmanns Handschrift: Spielerische Identität und Selbstverständnis
Mit zahlreichen Newcomern dominiert die DFB-Elf die Niederlande. Das Spiel zeigt: Julian Nagelsmann hat der deutschen Nationalmannschaft nicht nur eine spielerische Identität gegeben, sondern auch ein neues Selbstverständnis.
In München hatte das DFB-Team hohen Besuch: Die Niederlande waren zu Gast. Ewiger Rivale, kürzlich EM-Halbfinalist. Und Deutschland hatte nur einen Rumpfkader zur Verfügung. Kein Jamal Musiala, kein Kai Havertz, kein Marc-André ter Stegen.
Auch Deniz Undav, der im ausgedünnten Kader in kürzester Zeit zum Mann der Stunde avanciert war, musste kurzfristig passen. In dieser Personalsituation beschloss Nagelsmann, mit Angelo Stiller (23) und Aleksandar Pavlovic (20) ein bemerkenswert unerfahrenes zentrales Mittelfeld aufzustellen, dem er nur vier Stammspieler zur Seite stellen konnte.
Vertrauen und Freiheiten
Das Duell gegen die Niederlande fiel taggenau auf den Jahrestag, als Julian Nagelsmann als Bundestrainer der deutschen Fußballnationalmannschaft debütierte. Am 14. Oktober 2023, ein 3:1 gegen die USA. Der damals 36-Jährige hatte eine Mannschaft in der Krise übernommen. Ein DFB-Team, geplagt von Selbstzweifeln auf der Suche nach seiner alten oder einer ganz neuen Identität.
Auch damals vertraute Nagelsmann auf zwei Youngster. Die Debatte um die Frage, welcher der talentierten Offensiv-Künstler - Musiala oder Wirtz - künftig in der Startelf stehen sollte, beantwortete der neue Bundestrainer gegen die USA recht mutig mit: beide.
Seither hat sich viel getan. Nagelsmann hat es geschafft, der Nationalmannschaft in beeindruckender Geschwindigkeit ein Gerüst zu geben. Die DFB-Elf hat eine feste Spielidee und eine klare Identität - und dabei ist es - wie dieses Spiel gegen die Niederlande recht eindrucksvoll bewies - nicht unbedingt entscheidend, wer genau auf dem Platz steht.
Demonstration der Nagelsmann-Idee
Mit Tim Kleindienst begann ein DFB-Newcomer, Pavlovic und Stiller standen zum ersten Mal in der Startelf und mit Oliver Baumann und Jamie Leweling gaben zwei Spieler ihr Debüt - eine Rechnung mit fünf (fast) Unbekannten. In der Pre-Nagelsmann-Krisen-Ära wäre diese Aufstellung wohl das Rezept für einen recht ernüchternden Abend gewesen. Nun wurde es zu einer Demonstration der Nagelsmann-Idee.
Anspielstation Seitenaus: DFB dominiert "Elftal"
Der Rumpfkader des DFB warf sich von Beginn an mutig in die Partie, presste, drückte, ließ "Oranje" kaum Luft zum Atmen. Leweling brauchte keine zwei Minuten, um anzudeuten, in welche Richtung dieser Abend gehen würde. Der Stuttgarter drosch den Ball kraftvoll in das Tor, doch wurde vom VAR zurückgepfiffen.
Das Aufbauspiel der Niederländer war in der ersten Hälfte nahezu nicht existent. Die gefährliche Offensiv-Reihe aus Xavi Simons, Cody Gakpo und Brian Brobbey hing in der Luft und eine der beliebtesten Anspielstationen von Torhüter Bart Verbruggen war die Seitenauslinie.
Nagelsmann lobt "die Gier" seiner Mannschaft
Die neu zusammengewürfelte DFB-Elf zeigte genau das, was Nagelsmann sich von seinem Team wünscht. "Fußballerisch sind wir sehr dominant geworden", erklärte Nagelsmann nach der Partie bei der Presskonferenz. "Unser Gegenpressing war schon während der EM auf dem Niveau von Manchester City - der Benchmark in Europa." 8:0 Torschüsse, drückende Überlegenheit "Die erste Halbzeit war vielleicht die beste, die wir im letzten Jahr gespielt haben.“
In der zweiten Halbzeit musste Nagelsmann mit Wirtz auch auf den letzten Stammspieler in der Offensive verzichten. Ein spielerischer Verlust, den man der Mannschaft anmerkte. Dennoch drängte die DFB-Elf weiter auf den Siegtreffer, den schließlich der starke Debütant Leweling erzielte. Nagelsmann lobte anschließend "die Gier, die die Mannschaft verkörpert, Spiele zu gewinnen".
Nagelsmann: "Wir wollen etwas riskieren"
Es ist das neue Selbstverständnis beim DFB, auch ohne Bestbesetzung Top-Mannschaften dominieren zu wollen. Es ist bemerkenswert, wie mutig diese mit (Startelf-)Debütanten gespickte Mannschaft gegen den EM-Halbfinalisten agierte. Der Bundestrainer hat die Nationalmannschaft wieder durchlässiger gemacht, die alten Hierarchien aufgebrochen und es so geschafft, eine Atmosphäre zu schaffen, in der auch Newcomer ohne Angst vor Fehlern frei aufspielen können.
Passend dazu urteilte Nagelsmann über Stiller und Pavlovic: "Sie haben ein paar Abspielfehler gemacht - aber das will ich auch. Sie sollen was riskieren, sie sollen sich was trauen. Sie haben das gut gemacht.“ Diese Herangehensweise ist nicht nur eine Losung für die beiden Jung-Nationalspieler, es ist die Philosophie Nagelsmanns: "Wir wollten nicht, dass das Spiel dahinplätschert, sondern wollten dem Publikum etwas präsentieren und etwas riskieren."
Das Ziel ist klar: WM 2026
Die Ideen des Bundestrainers schlagen ein Jahr nach seinem Debüt voll durch - und er hat eine Mannschaft hinter sich, die an sie glaubt und sie verinnerlicht hat. Am Ziel ist Nagelsmann mit der DFB-Elf deswegen noch lange nicht, das hat er immer wieder betont. Das große Ziel liegt in nicht allzu ferner Zukunft, wenn 2026 in den USA, Kanada und Mexiko die Weltmeisterschaft beginnt.